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Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Titel: Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Nolte
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die
Passagiere ihre Gilderegeln ernst nahmen, riskierte der Mann aber dennoch eine
empfindliche Strafe. Laut Strominformation wurde ein überführter Dieb auf dem
Marktplatz ausgepeitscht. Wahrscheinlich reizte den Mann gerade diese Gefahr.
An Bord war alles zu perfekt, also griff man zu selbst geschaffenen
Ersatz-Problemen, um sich lebendig zu fühlen. Nun strich er an einer Frau in
Samt und Seide vorbei, die auf ihrem Teller einen Fasanenschenkel zerlegte, und
stahl ihr die schwere Silberkette vom Hals.
    Dschinn dachte belustigt, dass
jeder Dieb sein blaues Wunder erleben würde, wenn er sie zu bestehlen
versuchte. Alle Schmuckstücke, die sie trug, waren bissig.
    Die Hofdame bemerkte nicht, wie
ihre Accessoires verschwanden, denn sie konzentrierte sich ganz auf ihre
Mahlzeit. Elegant aß sie mit den Fingern und bewegte sich dabei so geziert,
dass ihr Sitznachbar mit Messer und Gabel fast bäuerisch aussah. Dschinns Blick
glitt als nächstes zu ihm weiter, einem hageren, asketisch wirkenden Mann, zu
dem die prunkvolle Hoftracht wenig passte. Er fühlte sich sichtlich unwohl in
dem hermelinbesetzten Mantel mit weinrotem ... Dschinn runzelte die Stirn.
    Sie kannte ihn.
    Die bohrenden Augen und die
bleiche Haut verrieten ihn selbst in diesem höfischen Kostüm. Oder ließ die
Situation sie schon Gespenster sehen? Sie glaubte den Eremiten zu erkennen, der
damals beim Beginn der Attentatsserie auf einer Sonnenliege gelegen und sie angestarrt
hatte.
    Was tat ein schamanischer Asket
auf einem Bankett? Er wirkte hier genauso unpassend wie vorher auf seiner
Sonnenliege. Dschinn hatte auf einmal ein ganz schlechtes Gefühl. „Entschuldigen
Sie mich“, sagte sie beiläufig zu ihren beiden Begleitern, „ich habe da drüben
einen alten Bekannten gesehen.“
    Randori warf ihr einen fragenden,
aufmerksamen Blick zu. Dschinn überlegte, ob sie eine kurze Erklärung an ihre
Mailbox schicken sollte, aber dazu war das Thema zu brisant. Strombotschaften
waren öffentlich zugänglich, jeder konnte sie empfangen und lesen – auch die
Verbündeten des Eremiten.
    Sie schob sich durch die Menge auf
den Langtisch zu, an dem der Mann saß. Als sie ein wenig näher kam, sah sie mit
ihren geschärften Augen, dass er Randori und Newton beobachtete. Seine Haltung
zeigte eine schlecht verborgene Unruhe. Dschinn ging in einem weiten Bogen an
ihm vorüber. Da sie als Randoris Begleiterin gekommen war, durfte sie sich
nicht zu auffällig benehmen, sonst würde er sich vielleicht entdeckt fühlen.
    Der Eremit stand auf, zog sich eine
Mantelkapuze ins Gesicht und eilte mit schnellen Schritten durch die Menge
davon. Hatte er sie bemerkt? Das konnte Dschinn sich kaum vorstellen. Sie
zögerte kurz, dann gewann der Jagdtrieb die Oberhand.
    Bladerunner drängte in ihrer
Psyche nach vorne, und ihre Bewegungen wurden raubtierhaft und geschmeidig. Sie
hielt sich im Schatten, als sie dem Menschen folgte, lief leichtfüßig an der
Wand des Innenhofes entlang, wo der Schein der Fackeln kaum hinreichte. Als sie
einen besonders dunklen Streifen durchquerte, löste sie die Atombindungen ihres
Hüllenkörpers und ließ die Außenschichten verpuffen. Sekundenschnell verformte
und verdichtete sich der kleine Rest von Rohmaterie zu einem Heliumgleiter von
der Größe eines Falken. Ohne ihre Geschwindigkeit zu verringern warf sie sich
in die Luft, flog aus dem Schatten heraus und hüllte sich in sofortige Unsichtbarkeit.
Zwei Gensequenzen von verschiedenen Spezies verzahnten sich zu einer perfekten
Tarnung: Von den Prismafressern stammte die Hautanpassung an den jeweiligen
Hintergrund und von den Windfargen die fast gläserne Durchsichtigkeit des Fleisches.
Beides zusammen machte es so gut wie unmöglich, Dschinn mit menschlichen Augen
zu entdecken. Nur ein Schimmer von Bewegung blieb zurück, als sie mit ihrem
Heliumauftrieb abhob und über der Menge kreiste, bis sie den Eremiten
wiedergefunden hatte.
    Er verließ soeben den Burghof und
marschierte über die Zugbrücke in den hellen Tag der Passagierstadt hinein.
Dschinn glitt mit hastigen Flügelschlägen hinterher und wurde von dem
plötzlichen Sonnenlicht geblendet. Automatisch schob sie milchige Nickhäute
über ihre Augen. Sie erreichte ihre Beute und schwebte von nun an immer direkt
über dem nichtsahnenden Eremiten. Er bewegte sich schnell aus dem Bereich der
Camelot heraus und tauchte in die Seitengassen von 61.2 Lindgren ein.
    Dschinn war immer wieder überrascht
von der Vielfältigkeit der Lebensräume an

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