Die fünfte Kirche
Blick hatte.
«Sie haben dafür gesorgt, dass Menna schon sehr früh die Pille nahm. Darin ist Dr. Coll gut, nicht? Die
wahren
Bedürfnisse der Einheimischen zu verstehen.»
«Wenn wir nicht was unternommen hätten, wäre sie mit vierzehn schwanger gewesen.»
«Hmhm, also hat ihr Vater sie wirklich missbraucht? Vielleicht sogar über eine ziemlich lange Zeit.»
Judith zuckte mit den Schultern.
«Und Sie wussten natürlich darüber Bescheid.»
«Wir haben über so etwas damals nicht gesprochen. Wie andere Leute es zu Hause hielten, war ihre eigene Sache.»
«Ja, ja, aber auch, weil Menna jedes Mal danach … zu Ihnen kam.»
«Oh ja, das stimmt. Über eine Meile weit.» Judith lächelte. Unglaublicherweise lag Nostalgie in diesem Lächeln. «Mehr als eine Meile weit über die Felder bis zu unserem Hof. Zum Hof meiner Eltern. Sie war meistens in Tränen aufgelöst – oder man sah jedenfalls, dass die Tränen auf ihren Wangen im Wind getrocknet waren.»
«Und Sie haben sie getröstet.»
Judith atmete sehr langsam ein, ihr schwarzer Mantel fiel zurück, ihre Brüste hoben sich unter ihrem Rugby-Shirt. Merrily dachte daran, wie sie sich in der Frauentoilette der Dorfhalle um Marianne gekümmert hatte. Immer Opfer: immer Verwundbarkeit, Verwirrung, Hilflosigkeit. Wie Menna, die allein mit ihrem Monster von Vater auf dem abgelegenen Bauernhof gelebt hatte.
«Das muss Sie ja unheimlich angemacht haben», sagte Merrily.
Judiths Gesichtsausdruck versteinerte. «Überspannen Sie den Bogen nicht, Mrs. Watkins.»
«Warum sind Sie nicht einfach mit ihr zur Polizei gegangen?»
«Damit sie gegen ihren eigenen Vater aussagt? Mal abgesehen davon, dass man so etwas damals hier einfach nicht gemacht hat – wie hätte sie denn alleine klarkommen sollen? Was hätte sie denn machen sollen, wenn ihr Vater im Gefängnis gesessen hätte?»
«Wahrscheinlich wäre sie erst einmal in ein Heim gekommen. Und das wäre vermutlich das Beste gewesen, was in Mennas Fall hätte passieren können.» Merrily hielt kurz inne. «Wenn nicht auch in Ihrem.»
«Sie wissen
überhaupt
nichts über diese Gegend», zischte Judith. «Sozialeinrichtungen?
Von wegen!
Wir haben uns immer selbst um unsere soziale Versorgung gekümmert.»
«Das glaube ich Ihnen sofort. Vor allem, nachdem Sie geheiratet hatten und von einer perfekten, sicheren sozialen Bühne aus agieren konnten.»
Die Heirat mit Gareth Prosser.
Landrat. Großer Mann – allerdings
auch ’n echtes Arschloch, ’tschuldigung. Hat Glück gehabt mit Judy, die erledigt das Denken für ihn.
Was für ein befriedigendes Arrangement, in fast jeder Hinsicht. Judith brauchte Gareth für den Rahmen, die Struktur, die Traditionen: für die Fassade, und eine Bessere hätte man sich kaum ausdenken können. Was hatte die sexuelle Orientierung schon damit zu tun? Das war eine extravagante, bedeutungslose Bezeichnung, die nicht hierherpasste. Manchmal war es eben nötig, selbst ein Opfer zu bringen – für eine Weile.
«Die Grundfesten des Landlebens», sagte Merrily. «Ein Ehemann, ein Bauernhof und Söhne – vorzugsweise zwei, falls einem von ihnen was passiert oder der andere komische Ideen entwickelt und nach Cardiff ziehen will, um Innenarchitekt zu werden.»
Judith lächelte schmallippig. «Sie sind ja so ein cleveres, kleines Miststück. Was ist denn mit
Ihrem
Leben, Mrs. Watkins? Man sagt, Ihr Mann sei vor ein paar Jahren gestorben. Befriedigt die Liebe zu Gott denn
alle
Ihre Bedürfnisse?»
Merrily beschloss, das zu überhören. «Als Sie mit einem Mann wie Gareth verheiratet waren, musste sich nichts ändern. Sie gingen zu Menna, sie kam zu Ihnen. Und als Mennas Vater gestorben war, hatten Sie den Notfallplan parat: Jeffery Weal. Der gute alte J. W., der solide, ruhige Familienanwalt. Ein Einheimischer, und so diskret.»
«Er war zu alt für sie, ja. Zu streng vielleicht auch. Aber sie war ein zartes, schwaches Ding. Sie wäre immer auf Unterstützung angewiesen gewesen.»
Es war perfekt. Seine Kleidung roch nach Mottenkugeln, und er hatte wenig, wenn nicht gar keine Erfahrung mit Frauen. Und er wohnte nur ein paar hundert Meter vom Hof der Prossers entfernt.
«
Sie
haben die ideale Ehe arrangiert, Judith. Sie haben Menna wahrscheinlich zu verstehen gegeben, was von ihr erwartet wird. Aber sie war sowieso an all das gewöhnt, das arme Kind. Sie warimmer ein Kind – ein trauriges, blasses kleines Mädchen. Weal muss ihr zuerst ein bisschen Angst gemacht haben,
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