Die fünfte Kirche
weg war. Da hatte er auch schon das nächste Maul zu stopfen. Leider schon wieder ein Mädchen.»
«Menna?»
«Sie muss … zehn Monate alt gewesen sein, als ich ging. Es hat lange gedauert, bis ich Schuldgefühle bekam, weil ich sie im Stich gelassen habe, fünfzehn Jahre oder länger. Und da war es zu spät. Sie hatten wahrscheinlich vergessen, dass ich jemals existiert habe. Ich vermute, er war sogar dankbar, dass ich weg war – so konnte er nochmal versuchen, einen Jungen zu bekommen, ohne Extrakosten zu haben. Ein Bauer braucht einen Sohn, sonst fehlt ihm etwas.»
«Und, hatte er Glück?»
«Meine Mutter hatte anscheinend eine Fehlgeburt», sagte Mrs. Buckingham schroff. «Danach ist ihr die Gebärmutter entfernt worden. Ich hab sie nie wiedergesehen.»
«Wo sind Sie hingegangen?»
«Ich habe in Hereford einen Job in einem Möbelladen angenommen. Die Leute dort waren sehr nett zu mir, sie haben mir ein Zimmer über dem Laden gegeben, neben dem Lager. Nachts war das ziemlich beängstigend. All die leeren Stühle: Ich habe mir immer, wenn ich von meiner Abendschule zurückkam, vorgestellt, dass darauf schweigende Leute sitzen, die auf mich warten. Aber es war charakterbildend, nehme ich an. Ich habe mit eins abgeschlossen und ein Stipendium fürs Lehrer-College bekommen.»
Merrily fand, dass all das ein bisschen nach Dickens klang, dabei musste es eigentlich in den Sechzigern gewesen sein.
«Und Sie sind nie zurückgekommen?» Das Telefon klingelte.
«Nach dem College bin ich nach Hampshire gegangen, in die Nähe von Portsmouth. Ich habe geheiratet und Kinder bekommen –sie sind inzwischen erwachsen. Nein, ich bin nicht zurückgekommen, bis vor kurzem. Eine Nachbarstochter – Judith – hat mir, damit ich über das Wichtigste informiert war, manchmal Briefe geschrieben. Gehen Sie ruhig ans Telefon, wenn Sie möchten.»
Merrily nickte und ging in ihrem Spülküchenbüro ans Telefon.
«Wie es der Zufall will» – Merrily schloss die Tür zur Küche –, «ist sie gerade hier.»
«Hör zu, es tut mir leid», sagte Eileen Cullen. «Ich wusste nicht, was ich ihr sonst sagen sollte. Sie war immer noch so unglücklich wegen ihrer Schwester, und ich hatte keine Zeit, mich um sie zu kümmern. Ich dachte einfach, jemand müsste ihr klarmachen, dass sie Mr. Weal vergessen und nach Hause fahren soll. Und ich dachte, sie macht es eher, wenn es von einem Geistlichen kommt, zum Beispiel von deiner Wenigkeit.»
«Entschuldige, aber das klingt überhaupt nicht nach dir.»
«Nein. Na ja …»
«Sie hat also nichts davon gesagt, dass sie einen besonderen Gottesdienst in der Kirche möchte?»
«Merrily, ich müsste eigentlich schon auf der Station sein.»
«Verdammt, Eileen!»
«Jetzt hör doch mal, alles, was die Frau will, ist, dass ihre Schwester auf angemessene, heilige Weise zur letzten Ruhe kommt. Sie ist einer deiner christlichen Mitmenschen. Sag ihr einfach, du sprichst ein paar Gebete für die arme Seele, und das war’s.»
Merrily hörte einen unerwarteten Unterton in Eileens Stimme.
«Wie ist es eigentlich mit Mr. Weal weitergegangen, nachdem ich weg war?»
«Er ist irgendwann rausgekommen.»
«Irgendwann?»
«Er ist rausgekommen, als
sie
rauskam. Er wollte sie in die Leichenhalle begleiten.»
«Ist das normal?»
«Nein, das ist natürlich kein bisschen normal. Wir sprechen ja auch nicht über einen normalen Typen! Er hat eine Sondererlaubnis bekommen. Merrily, ich muss wirklich los. Wenn die Stationsschwester zu spät kommt, kann man von den andern Schwestern nicht verlangen –»
«Eileen!»
«Mehr kann ich dir wirklich nicht sagen. Bring sie dazu, nach Hause zu fahren. Sie tut sich selbst keinen Gefallen.»
«Was soll
das
denn jetzt heißen?»
Aber Eileen hatte aufgelegt.
Als Merrily zurück in die Küche kam, stand Barbara Buckingham unschlüssig neben einer Wandlampe.
«Mrs. Watkins, ich möchte Ihnen keine Umstände machen …»
«Nennen Sie mich doch bitte Merrily. Und setzen Sie sich. Es gibt keinen Grund …»
«Ich versuche nur, geradeheraus zu sein, wissen Sie? In meiner Kindheit wurde nie ein direktes, ehrliches Wort gesprochen. Niemand hat einem in die Augen gesehen, man hat den Blick gesenkt und jeden Konflikt vermieden, man sollte sich weder mit den Engländern noch mit den Walisern sehen lassen. Immer schön leise und unauffällig bleiben.»
Die Frau war zu lange weg gewesen, dachte Merrily, als der Kessel pfiff. «Erzählen Sie
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