Die fünfte Kirche
Die Sendung auf die leichte Schulter nehmen? Sie hatte ja sogar ihr Wasserglas abstellen müssen, weil sie es nicht ruhig halten konnte. Lächerlich; sie hielt jeden Sonntag Gottesdienste, hatte sich mit streitsüchtigen Teenagern auseinandergesetzt, mit Gott, sie hatte …
Da war Sean, lächelnd, in ihrem Kopf. Auf der Fahrt war sie an der Stelle vorbeigekommen, an der er gestorben war, auf der M 5, in einem Flammeninferno.
Geh weg!
Etwas zu laut sagte sie: «Tania, können Sie mir einen kleinen Überblick geben? Wer ist sonst noch hier?»
«O. k. Der Aufhänger für das Ganze ist das Paar da drüben. Sie wollen, dass es ihrem Kind erlaubt wird, in der Schule seine heidnischen Gebete zu sprechen und so weiter.» Sie nickte in Richtung eines bärtigen Mannes im selbstgestrickten Pullover. Seine Partnerin hatte einen taillenlangen Zopf. Sie hätten Muslime sein können. Sie könnten sogar Christen sein.
Merrily sagte: «Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie nicht besonders viel Zeit auf sie verwenden wollen?»
«Verdammt richtig. Langweilig, langweilig, langweilig. Sogar der Leiter der Schule ist vielversprechender – er ist ein
wiedergeborener
Christ, spricht immer, als hätte er ein heißes Bonbon im Mund. O. k., da drüben … Patrick Ryan – lange Haare, Samtjacke – Cambridge-Professor, der eine Studie über heidnische Praktiken veröffentlicht hat. Vermutlich hat er in seinem County jede zweite Priesterin flachgelegt, aber darauf wird er heute wohl nicht näher eingehen.
Der Kleine mit dem geschorenen Schädel ist Tim Fagan, ehemaliger Schreiberling von der
Sun
. Die hatten ihn losgeschickt, damit er über so einen sexy Hexenzirkel schreibt, und stattdessen ist er ihm beigetreten. Gibt jetzt ein Hexenmagazin heraus, das
The Moon
heißt – haha.»
Abgesehen von Edward Bain sahen alle ziemlich harmlos aus.
«Was ist mit der anderen Seite?»
«Da haben wir eine extrem verärgerte Mutter, die behauptet, ihre Tochter sei von dem ganzen Heidenzeug verrückt geworden. Die ist
wirklich
stark. Das Kind ist der Weißen Hexerei verfallen und hat irgendwann angefangen, Kirchen vollzupinkeln. Was dann direkt zu Ihnen führt.»
«Vielen Dank.»
«Sie wissen schon, wie ich das meine.»
«Hmm.» Tania hatte am Telefon verraten, dass sie Ausschnitte aus einer Nachrichtensendung hatte, die über die Schändung einer Dorfkirche letztes Jahr in Herefordshire berichtete, zu der auch die Opferung einer Krähe gehört hatte. Nicht ganz angemessen, fand Merrily.
«Das hatte wahrscheinlich mit orthodoxem Heidentum – falls es so was gibt, was ich bezweifle – nichts zu tun. Es war eine besondere Form der schwarzen Magie, eine einmalige Sache.»
«Mit ‹der anderen Seite›», sagte Merrily, «meinte ich eigentlich
uns
, die Kirche. Sie hatten doch gesagt, ich wäre hier nicht allein.» Wie jämmerlich klang das denn?
«Das habe ich so nicht gesagt.»
«Doch, das haben Sie, Tania.»
«Na ja, es ist so, der andere Typ hat uns hängenlassen. Seine Frau hatte eine Fehlgeburt oder so.» Es war offensichtlich, dass das nicht stimmte. «Aber wenn Sie Rückendeckung brauchen: Der Schulleiter hat ein paar Mitglieder seiner Kirche mitgebracht. Sehen Sie den Typ da in dem weißen –»
«Und welche Kirche soll das sein?»
«Na ja, die christliche vermutlich, aber Sie würden es vielleicht eher einen Kult nennen.»
«Na toll.»
«Die werden ziemlich heftiges apokalyptisches Zeug erzählen, über den Antichrist, der auf der Erde wandelt, verkleidet als … Moment, Steve will wohl jetzt ein paar aufmunternde Worte sprechen.»
Ein glatzköpfiger Mann um die dreißig stand in der Mitte des Raumes und bat um Stille.
«O. k., alle mal hergehört, ich heiße Steve Ewing. Ich bin der leitende Redakteur von
Livenight
. Ich begrüße Sie herzlich und freue mich, dass Sie alle mitmachen. Wir gehen in fünfzig Minuten auf Sendung. Sie kennen die Sendung ja alle – wenn nicht, sind Sie selbst schuld. O. k., was ich vor allem betonen will:
Livenight
ist wie das richtige Leben – man kriegt keine zweite Chance.»
Eine Frau lachte gackernd. «Das glaubst du vielleicht, Kleiner.»
Steve Ewing lächelte schwach. «Ja, der war gut. Was ich damit sagen will, ist, dass wir hier nicht einfach nur so rumhängen, und das sollten Sie auch nicht tun. Wenn Sie etwas sagen möchten, dann sagen Sie es, halten Sie sich nicht zurück, sonst ist es zu spät, und wir sind längst bei einem andern Aspekt.»
Merrily
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