Die Fünfundvierzig
handeln, denn nun werde ich niemand mehr auf der Erde zurücklassen, und ich habe das Recht, von ihr zu scheiden.«
Sie erhob sich auf ein Knie und küßte die Hand, die aus dem Rahmen herabzuhängen schien.
»Du verzeihst mir, Freund, daß ich trockene Augen habe,« sagte sie; »indem ich auf deinem Grabe weinte, sind meine Augen vertrocknet, diese Augen, die du so sehr liebtest. In wenigen Monaten werde ich zu dir kommen, und du wirst mir endlich antworten, teurer Schatten, mit dem ich so viel gesprochen, ohne je eine Antwort zu erhalten.«Hierauf erhob sich Diana ehrfurchtsvoll und setzte sich auf ihren eichenen Stuhl.
»Armer Vater,« flüsterte sie mit einem kalten Tone und mit einem Ausdruck, der keinem menschlichen Geschöpf anzugehören schien. Dann versank sie in eine tiefe Träumerei, die sie scheinbar das gegenwärtige Unglück und die vergangenen Leiden vergessen ließ.
Plötzlich richtete sie sich auf, stützte die Hand auf einen Arm des Lehnstuhls und sagte: »Das ist es, und so wird alles besser gehen, Remy!«
Der treue Diener horchte ohne Zweifel an der Tür, denn er erschien sogleich und erwiderte: »Hier bin ich, gnädige Frau.«
»Mein würdiger Freund, mein Bruder, Ihr, das einzige Geschöpf, das mich auf dieser Welt kennt, nehmt von mir Abschied!« – »Warum dies, gnädige Frau?«
»Weil die Stunde, uns zu trennen, gekommen ist, Remy.«–»Uns trennen!« rief der junge Mann mit einem Ausdruck, der seine Gefährtin beben ließ; »was sagt Ihr, gnädige Frau?«
»Ja, Remy. Dieser Racheplan schien mir edel und rein, solange noch ein Hindernis zwischen ihm und mir lag, solange ich ihn nur am Horizont erblickte. Nun, da ich der Ausführung nahestehe, nun da das Hindernis verschwunden ist, weiche ich nicht zurück, Remy, aber ich will nicht eine edle, fleckenlose Seele hinter mir auf den Weg des Verbrechens ziehen; somit werdet Ihr mich verlassen, mein Freund.«
Remy hatte die Worte der Frau von Monforeau mit einer finsteren, beinahe stolzen Miene angehört.
»Gnädige Frau,« erwiderte er, »glaubt Ihr denn mit einem zitternden, durch den Gebrauch des Lebens abgenutzten Greis zu sprechen? Gnädige Frau, ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und stehe im vollen Saft der Jugend, der in mir vertrocknet zu sein scheint, in mir, einem dem Grabe entrissenen Leichnam; wenn ich noch lebe, so ist es, um einefurchtbare Handlung zu vollbringen, um eine tätige Rolle in dem Werke der Vorsehung zu spielen; trennt also meinen Geist nicht von dem Eurigen, da diese beiden finsteren Geister so lange unter demselben Dache gewohnt haben; wohin Ihr geht, werde ich auch gehen; was Ihr tun möget, ich werde Euch dabei unterstützen, und wenn Ihr trotz meiner Bitten auf Eurem Entschluß, mich fortzujagen, beharrt...«
»Oh! Euch fortjagen! Welches Wort habt Ihr da gesagt, Remy?« – »Wenn Ihr auf Eurem Entschluß beharrt,« fuhr der junge Mann fort, als ob sie nicht gesprochen hätte, »so weiß ich, was ich zu tun habe, und alle unsere unnütz gewordenen Studien werden für mich auf zwei Dolchstiche auslaufen; der eine trifft das Herz dessen, den Ihr kennt, der andere das meinige.«
»Remy! Remy!« rief Diana, indem sie einen Schritt gegen den jungen Mann tat und gebieterisch ihre Hand über seinem Haupte ausstreckte, »Remy, sagt das nicht; das Leben dessen, den Ihr bedroht, gehört mir, mir, die ich es teuer genug bezahlt habe, um es ihm selbst zu nehmen, sobald der Augenblick, wo er es verlieren soll, gekommen sein wird; Ihr wißt, was geschehen ist, Remy, und das ist kein Traum, ich schwöre es Euch; an dem Tage, an dem ich zu dem kalten Leibe von diesem niederkniete...«
Und sie deutete auf das Porträt.
»An diesem Tage, sage ich, näherte ich meine Lippen dieser Wunde, die Ihr offen seht, und diese Wunde zitterte und sprach zu mir: 'Räche mich, Diana, räche mich!'« – »Gnädige Frau.«
»Remy, ich wiederhole dir, es war keine Einbildung, es war kein Lallen meines Fieberwahnsinns: die Wunde hat gesprochen, sie hat gesprochen, sage ich dir, und ich höre sie noch murmeln: 'Räche mich, Diana, räche mich!'«
Der Diener neigte das Haupt.
»Mir also und nicht Euch kommt die Rache zu,« fuhr Diana fort; »überdies für wen und durch wen ister gestorben? Für mich und durch mich.« – »Ich muß Euch gehorchen, gnädige Frau, denn ich war auch tot wie er. Wer hat mich aus der Mitte dieser Toten, mit denen der Boden bedeckt war, wegbringen lassen? Ihr. Wer hat meine Wunden geheilt? Ihr. Wer hat
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