Die Fünfundvierzig
erfahren, denn der Augenblick, zu sprechen und allen meinen Zweifeln ein Ende zu machen, ist nun gekommen. Nirgends hat sich noch eine so schöne Gelegenheit gezeigt.«
Und er ging auf das Haus zu.
Doch plötzlich blieb er stehen, mit jenem Zögern, das die Herzen der Liebenden so häufig ergreift. Nachdem er sich noch einmal in wollüstigem Schmerz in die Pein seiner hoffnungslosen Liebe versenkt hatte, legte er sich endlich unter die Weiden, deren Zweige das Haus bedeckten, undhorchte mit unbeschreiblich schwermütigem Gefühl auf das Gemurmel des Wassers, das an seiner Seite hinfloß.
Plötzlich bebte er, der Lärm der Kanonen erscholl auf der Nordseite und zog, vom Winde getragen, vorüber.
»Ah!« sagte er zu sich selbst, »ich werde zu spät kommen, man greift Antwerpen an.«
Der erste Entschluß Henris war, aufzustehen, wieder zu Pferde zu steigen und, vom Lärm geleitet, dahin zu eilen, wo man sich schlug; aber dann mußte er ja die unbekannte Dame verlassen und im Zweifel über sie vom Leben scheiden.
Er blieb also. Zwei Stunden lang lag er auf der Erde, horchte auf das donnerähnliche Krachen, das sein Ohr erreichte, und fragte sich, was für ein unregelmäßiges, stärkeres Krachen es wäre, das von Zeit zu Zeit das andere verstärkte.
Er hatte keine Ahnung, daß dieses Krachen von den in die Luft springenden Schiffen seines Bruders verursacht wurde.
Endlich, gegen zwei Uhr, wurde alles ruhig.
»Zu dieser Stunde,« sagte Henri zu sich selbst, »ist Antwerpen genommen, und mein Bruder ist Sieger; aber nach Antwerpen wird Gent kommen; nach Gent Brügge, und es wird mir nicht an Gelegenheit fehlen, glorreich zu sterben. Doch bevor ich sterbe, will ich wissen, was diese Frau im Lager der Franzosen sucht.«
Und als nach dem Schlachtlärm die Natur zu ihrer Ruhe zurückgekehrt war, kehrte auch Joyeuse, in seinen Mantel gehüllt, zu seiner Unbeweglichkeit zurück.
Er war in jene Art von Schlaftrunkenheit versunken, der gegen Ende der Nacht der Wille des Menschen nicht widerstehen kann, als sein Pferd, das einige Schritte von ihm weidete, die Ohren spitzte und traurig wieherte.
Henri öffnete die Augen. Aufrecht, den Kopf in einer andern Richtung als den Körper haltend, atmete das Tier den Wind ein, der von Südost kam.
»Was gibt es, mein gutes Roß?« sagte der junge Mann, indem er aufstand und seinem Pferde den Hals streichelte, »hast du eine Otter vorüberkommen sehen, die dich erschreckt, oder sehnst du dich nach dem Obdach eines guten Stalles?«
Als hätte es die Frage verstanden und wollte darauf antworten, machte das Tier eine freie, lebhafte Bewegung in der Richtung von Lier und horchte, das Auge starr und die Nüstern weit geöffnet.
»Ah! ah!« murmelte Henri, »es ist ernster, wie es scheint; ein Trupp Wölfe, der dem Heere folgt, um die Leichname zu verzehren.«
Das Pferd wieherte, senkte den Kopf und ergriff dann mit einer Bewegung, rasch wie der Blitz, die Flucht nach Westen. Doch dabei kam es in den Bereich der Hand seines Herrn, der es beim Zaume packte und aufhielt. Ohne die Zügel zusammenzunehmen, faßte es Henri bei der Mähne und schwang sich in den Sattel; hier machte er sich als guter Reiter zum Herrn seines Pferdes und hielt es fest.
Aber was das Pferd gehört hatte, fing Henri nach einem Augenblick auch an zu hören, und der Mensch erschrak, wie vorher das rohe Tier.
Ein langes Murmeln, dem eines scharfen und schweren Windes ähnlich, erhob sich von den verschiedenen Punkten eines Halbkreises, der sich von Süden nach Norden auszudehnen schien; Stöße einer frischen und mit Wasserdunst beladenen Brise unterbrachen von Zeit zu Zeit dieses Gemurmel, das dem Geräusche steigender Fluten auf den mit Kieselsteinen bedeckten, sandigen Ufern ähnlich wurde.
»Was ist denn das?« fragte Henri, »sollte es der Wind sein? Nein, das kann nicht sein. Ist es das Prasseln eines Brandes? Ebenfalls nicht; denn man sieht keinen Schimmer am Horizont, und der Himmel scheint sich sogar zu verdüstern.«
Das Geräusch verdoppelte sich und wurde deutlich;es war das unablässige, dumpfe Rollen, wie es tausend in der Ferne auf tönendem Pflaster polternde Kanonen hervorbringen würden.
Henri glaubte einen Augenblick den Grund dieses Geräusches gefunden zu haben, indem er es der von uns erwähnten Ursache zuschrieb. Bald aber sagte er: »Unmöglich, es gibt keine gepflasterte Chaussee in dieser Gegend, es gibt keine tausend Kanonen bei der Armee.«
Das Tosen kam immer näher. Henri
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