Die Fuenfzig vom Abendblatt
Sie alle brüllten nun wie hinter einem Dieb her:
„Haltet ihn! Aufhalten!“
Dabei wäre dieses Rufen kaum erfolgreich gewesen, wenn nicht im gleichen Augenblick tatsächlich ein paar Meter vor Mario jemand aufgetaucht wäre, der ihn aufgehalten hätte. Denn bis zu dieser Sekunde nämlich lagen Ausfahrt und Straße offen und frei vor dem flüchtenden Jungen.
Aber jetzt stand plötzlich Meister Burkhard von der Druckerei vor ihm. Burkhard hatte wohl gerade gegenüber sein Bier getrunken, wie jeden Abend. Er hörte und begriff auch sofort, worum es ging. Der Italienerjunge versuchte noch im letzten Augenblick verzweifelt auszubiegen, aber Meister Burkhard hatte lange Arme und noch längere Beine. Er bekam den Jungen zwischen seine breiten Hände und packte ihn damit im Nacken, wie einen Hasen. Im gleichen Augenblick waren auch schon die anderen da. Alibaba packte Mario bei der Schulter und hob ihm das Kinn hoch, so daß ihn der Junge ansehen mußte: „Was ist los?“
„Das werdet ihr gleich spitz kriegen, ihr ahnungslosen Nußknacker! Ihr werdet Maul und Augen aufreißen!“
Schnaubend wie eine Bulldogge und mit gerötetem Gesicht kam jetzt der alte Bombinsky auf den Boß und Mario zu. Er hatte ein Messer in der Hand. Ein scharfes, spitzes Ding. Dasselbe Messer, das der Junge heute, in ein Stück Zeitungspapier gewickelt, von Bulle bekommen hatte.
„Hier — das da — das hat er weggeworfen, als ich ihn erwischt habe! Feines Gemüse habt ihr da in eurer guten Stube. Pfui Deubel! Hat euch die ganzen Reifen an euren Fahrrädern durchgeschnitten, wie wenn’s Schnittlauch wäre oder Suppengrün. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Kam ganz durch Zufall dazu. Hätte ja sonst keine Seele gemerkt! Habt ja alle eure Augen mit Pelikanol verschmiert!“
Mario sagte kein Wort. Er hielt den Kopf gesenkt, so daß sein Kinn fast auf der Brust lag. Nur jetzt niemandem in die Augen schauen müssen.
Harald stand dicht hinter Alibaba. Er war zusammen mit Mario im Aufenthaltsraum gewesen. Er hatte ihm sogar geholfen, die Reifen der Räder unbrauchbar zu machen. Aber er hatte dann den alten Bombinsky noch rechtzeitig bemerkt. Gerade noch so rechtzeitig, um sich selbst hinter einer Säule in Sicherheit zu bringen. Aber zu spät, um auch den jungen Italiener noch zu warnen. Nun hatte er nichts mehr ändern, nichts mehr aufhalten können. Nachdem die ganze Aufmerksamkeit auf Mario gelenkt war, hatte er sich selbst wieder unbemerkt unter die Jungen der Horde gestellt. Was er jetzt tun mußte, das würde davon abhängen, ob Mario reden würde. In diesem Falle mußte Harald sein Geheimnis preisgeben. Nicht nur dem Boß. Gleich der ganzen Horde. Damit allerdings konnte alles verloren sein. Dann nämlich, wenn nur einer von den Jungen den Nachtexpreß-Leuten gegenüber etwas verlauten ließe.
Harald holte tief Luft.
Ruhig und voll Atem holen, das half immer, wenn er glaubte, vor Spannung platzen zu müssen.
Da rannte Alibaba als erster zum Aufenthaltsraum. Was er dort sah und was mit ihm zusammen die fünfzig Jungen der Horde sahen, das war im ersten Augenblick allerdings so ungeheuerlich, daß es ihnen allesamt die Sprache verschlug.
Die Reifen fast sämtlicher Räder waren aufgeschnitten. Vorder- und Hinterreifen. Mäntel und Schläuche zusammen mit einem Schnitt. Es wäre sinnlos gewesen, jetzt mit Flicken und Reparieren anzufangen. Hier war nichts mehr zu retten, jedenfalls nicht in der nächsten halben Stunde.
„Saubere Arbeit!“ Alibaba konnte mühelos drei Finger zwischen das Loch legen, das ihm in den Hinterreifen seines Rades geschnitten war.
Sam brüllte auf, als ob er selber mit einem Messer in Berührung gekommen wäre. Sein großen, weißen Augen schossen Blitze. „Umbringen könnte ich den Kerl! Das ist glatte Sabotage!“
Er feuerte sein Fahrrad in eine Ecke und rannte wütend zu Mario zurück, der immer noch von Meister Burkhard festgehalten wurde. „Ich reiß’ dir jedes Haar einzeln aus, du Stinktier!“ brüllte Sam. „Bist du denn überhaupt’n Mensch? Kröte! Ratte! Pfui Deubel! Speiübel wird es mir, wenn ich dich nur sehe!“
„Schnauze!“ sagte Alibaba nur und schob den tobenden Sam einfach zur Seite. Er packte Mario am Kinn und hielt den Kopf des Jungen wieder so, daß er ihm ins Gesicht sehen mußte.
„Wer hat dir gesagt, daß du das tun sollst — ?“ Die Stimme des Rothaarigen war ganz ruhig. Aber gerade, weil sie so ruhig war, klang sie besonders gefährlich.
Harald rührte sich
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