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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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diesem Augenblick trat Stapes geschäftig aus dem Ankleidezimmer des Maer. Als er uns sah, malten sich auf seiner sonst so unbewegten Miene für einen kurzen Moment Überraschung und Panik. Er fasste sich sofort wieder. »Ich bitte Euch um Verzeihung«, sagte er und wollte sich rasch wieder in das Ankleidezimmer zurückziehen.
    »Stapes«, rief der Maer, bevor er verschwinden konnte. »Kommt her.«
    Stapes kehrte mit hängenden Schultern zurück und rang nervös die Hände. Er wirkte schuldbewusst, wie jemand, der soeben auf frischer Tat ertappt worden ist.
    »Was habt Ihr da, Stapes?«, fragte Alveron streng. Ich sah genauer hin. Der Kammerdiener bewegte die Hände nicht, sondern hielt etwas in ihnen.
    »Ach, nichts …«
    »Stapes!«, rief der Maer zornig. »Wie könnt Ihr es wagen, mich anzulügen! Zeigt es sofort her!«
    Der Diener öffnete wie betäubt die Hände. Auf seinem Handteller lag leblos ein kleiner, leuchtend bunter Vogel. Aus Stapes’ Gesicht war alle Farbe gewichen.
    Nie in der Geschichte der Menschheit hat der Tod eines so schönen Vogels eine solche Freude und Erleichterung ausgelöst wie bei mir. Ich glaubte seit Tagen fest, dass Stapes den Maer betrog, und hier lag der unstrittige Beweis.
    Trotzdem schwieg ich. Der Maer sollte seine eigenen Schlüsse ziehen.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Alveron langsam.
    »Der Vogel soll Euch nicht die Laune verderben, Herr«, sagte der Diener hastig. »Ich hole nur rasch einen anderen. Der wird genauso schön singen.«
    Eine lange Pause folgte. Ich sah, wie Alveron die Wut niederkämpfte, die mir gegolten hatte. Und immer noch dauerte das Schweigen an.
    |619| »Stapes«, sagte ich, »wie viele Vögel habt Ihr in den vergangenen Tagen ersetzt?«
    Stapes sah mich empört an.
    Bevor er den Mund aufmachen konnte, brach der Maer das Schweigen. »Antwortet ihm, Stapes.« Seine Stimme klang erstickt. »Mehr als diesen einen?«
    Stapes sah den Maer bekümmert an. »Ich wollte Euch diesen Anblick ersparen, Lerand. Es ging Euch doch so schlecht. Ich sollte Euch die Vögel bringen, und anschließend hattet Ihr diese schreckliche Nacht. Am nächsten Tag lag ein Vogel tot im Käfig.«
    Er blickte auf den kleinen Vogel in seiner Hand und die Worte sprudelten auf einmal nur so aus ihm heraus und überschlugen sich fast. Wer so redete, sagte die Wahrheit. »Ihr solltet nicht an den Tod denken müssen. Deshalb entfernte ich den Vogel heimlich und ersetzte ihn durch einen anderen. Dann ging es Euch immer besser, während täglich vier bis fünf Vögel starben. Jedes Mal wenn ich nachsah, lag wieder einer auf dem Boden des Käfigs wie eine kleine abgeschnittene Blume. Aber euch ging es so gut, deshalb wollte ich es Euch nicht sagen.«
    Stapes bedeckte den toten Vogel mit der hohlen Hand. »Es war geradezu, als hätten sie ihre kleinen Seelen aufgegeben, damit Ihr gesund werden könnt.« Etwas in ihm brach zusammen und er begann zu weinen. Ich hörte das herzzerreißende, hoffnungslose Schluchzen eines ehrlichen Mannes, der das langsame Sterben eines ihm teuren Freundes mit ansehen musste und seinem Kummer lange Zeit hilflos ausgeliefert war.
    Alveron rührte sich einen atemlosen Moment lang nicht, und aller Zorn fiel von ihm ab. Dann trat er zu seinem Kammerdiener und nahm ihn zärtlich in die Arme. »Ach Stapes«, sagte er leise, »die Vögel haben sich in gewisser Weise ja auch tatsächlich für mich geopfert. Ihr habt Euch nichts zuschulden kommen lassen.«
    Ich ging leise aus dem Zimmer und entfernte die Futterspender von dem goldenen Käfig.

    |620| Eine Stunde später nahmen wir in den Gemächern des Maer zu dritt ein stilles Nachtmahl ein. Alveron und ich hatten Stapes über die Geschehnisse der vergangenen Tage aufgeklärt, und Stapes war außer sich vor Freude über die zügige Genesung seines Herrn und die Aussicht auf weitere Besserung.
    Ich selbst war erleichtert, nach einigen Tagen der Ungnade so plötzlich wieder in Alverons Gunst zu stehen. Doch zitterte ich immer noch bei dem Gedanken, wie nahe ich am Abgrund gestanden hatte.
    Ich gestand dem Maer offen meinen falschen Verdacht gegen Stapes und bat den Diener von Herzen um Verzeihung. Stapes seinerseits gestand seine Vorbehalte gegen mich. Zuletzt reichten wir uns versöhnt die Hand.
    Gegen Ende des Mahls plauderten wir noch über dies und das, da hob Stapes plötzlich den Kopf, entschuldigte sich und eilte aus dem Zimmer.
    »Es steht jemand vor der äußeren Tür«, erklärte der Maer. »Stapes hat Ohren

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