Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
In Wirklichkeit wollte ich es rasch hinter mich bringen, damit wir eine ernsthafte Unterredung unter vier Augen führen konnten.
Doch ich wusste, dass Alveron sich nicht drängen ließ. Unsere Gespräche folgten einem festen Ritual. Wenn ich dagegen verstieß, ärgerte ich ihn nur. Also übte ich mich in Geduld, roch an den Blumen und tat, als interessierte ich mich für den Hofklatsch.
Nach einer weiteren Viertelstunde entstand, wie es für unsere Gespräche typisch war, eine Pause. Als Nächstes würde Alveron mich zu einem strittigen Thema befragen und dann würden wir uns an einen Ort zurückziehen, wo wir ungestört über wichtige Dinge reden konnten.
»Ich war immer der Ansicht«, begann Alveron endlich mit dem Thema unserer Diskussion, »dass jeder Mensch in seinem Innersten eine Frage mit sich herumträgt.«
»Wie meint Ihr das, Euer Gnaden?«
»Ich glaube, jeder Mensch wird von einer Frage umgetrieben. Einer Frage, die ihn nachts wach hält und an der er herumnagt wie ein Hund an einem alten Knochen. Wer diese Frage kennt, kennt auch den betreffenden Menschen besser.« Er warf mir einen Blick von der Seite zu und lächelte ein wenig. »Zumindest meine ich das schon immer.«
Ich überlegte einen Moment lang. »Da würde ich Euch zustimmen, Euer Gnaden.«
Alveron hob die Augenbrauen. »So schnell?« Er klang ein wenig enttäuscht. »Ich hatte mit mehr Widerspruch gerechnet.«
Ich schüttelte den Kopf, froh über die Gelegenheit, meinerseits ein Thema anschneiden zu können. »Mich selbst beschäftigt seit einigen Jahren eine ganz bestimmte Frage und das wird meiner Einschätzung nach auch noch einige Zeit so bleiben. Deshalb leuchtet mir vollkommen ein, was Ihr sagt.«
»Wirklich?«, fragte er neugierig. »Was für eine Frage denn?«
Ich überlegte, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte. Dass ich die Chandrian suchte, die meine Familie getötet hatten. Doch das kam nicht wirklich in Frage. Dieses Geheimnis lag immer noch schwer wie ein großer Stein auf dem Grund meines Herzens begraben. Es war so persönlich, dass ich es einem intelligenten und schlauen Menschen wie dem Maer nicht anvertrauen konnte. Außerdem hätte ich damit meine Herkunft von den Edema Ruh preisgegeben, von der bisher noch niemand am Hof des Maer etwas ahnte. Der Maer wusste zwar, dass ich nicht dem Adel angehörte, aber keineswegs, dass meine Abstammung so gering war.
»Es muss sich um eine gewichtige Frage handeln, wenn du so lange überlegst«, scherzte Alveron auf mein Zögern hin. »Sage sie mir, ich bestehe darauf. Ich biete dir sogar einen Tausch an: eine Frage für eine Frage. Vielleicht können wir einander zu einer Antwort verhelfen.«
Auf eine schönere Ermutigung konnte ich nicht hoffen. Ich dachte noch kurz nach und wählte meine Worte dann mit Bedacht. »Wo sind die Amyr?«
»Die Amyr mit den blutigen Händen«, murmelte Alveron. Er musterte mich von der Seite. »Du fragst wahrscheinlich nicht, wo ihre Gebeine ruhen?«
»Nein, Euer Gnaden«, sagte ich ernst.
Er wurde nachdenklich. »Interessant.« Ich atmete erleichtert auf, denn ich hatte schon halb mit einer oberflächlichen Antwort gerechnet, etwa, dass die Amyr seit Jahrhunderten tot seien. Stattdessen sagte der Maer: »Ich habe mich nämlich in meiner Jugend eingehend mit den Amyr beschäftigt.«
»Wirklich, Euer Gnaden?«, fragte ich, ganz überrascht von diesem Zufall.
Er sah mich mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln an. »So überraschend ist das auch wieder nicht. Als Junge wollte ich ein Amyr sein.« Er klang ein wenig verlegen. »Es gibt nicht nur böse Geschichten über sie. Sie haben schwierige Entscheidungen getroffen, die niemand sonst treffen wollte. So etwas macht den Menschen Angst, aber ich glaube, dass sie sehr viel Gutes bewirkt haben.«
»Das fand ich auch immer«, gestand ich. »Neugierige Frage: Welches ist eure Lieblingsgeschichte?«
»Die von Atreyon«, sagte Alveron ein wenig wehmütig. »Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gehört. Ich könnte die acht Eide des Atreyon wahrscheinlich auswendig aufsagen.« Er schüttelte den Kopf und sah mich an. »Und deine?«
»Atreyon ist mir ein wenig zu blutig«, musste ich gestehen.
Alveron wirkte belustigt. »Die Amyr wurden nicht umsonst ›die mit den blutigen Händen‹ genannt«, sagte er. »Die Tätowierungen der Ciridae waren kein Schmuck.«
»Stimmt. Trotzdem bevorzuge ich Sir Savien.«
»Natürlich«, sagte Alveron und nickte. »Du bist ein Romantiker.«
Schweigend setzten wir
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