Die Gabe der Amazonen
benötigen. Diese Amazone muß bei ihrem Leben schwören, daß sie niemals das Geheimnis des Feilscherdorfes verrät. Als ich noch Königin in Kurkum war, hielt Ulissa, meine Schwester, die Verbindung zu Mimmel aufrecht.«
Viburn nickte bedächtig mit dem Kopf. »Sage mir doch, Yppolita, wieso spricht er – offenbar als einziger seines Stammes – unsere Sprache?«
Ehe Yppolita antworten konnte, ertönte Mimmels Stimme vom Nebeneingang: »Das kann ich Euch sagen«, rief er und trat in den Saal. Hinter ihm ging der mollige Jüngling, Mimmels ›Gespiele‹. Ächzend schleppte er einen gewaltigen Wälzer heran, an dem auch ein ausgewachsener Mensch schwer zu tragen gehabt hätte, und legte ihn auf den Tisch. ›Hauptbuch‹ stand in goldenen Prägebuchstaben auf dem Ledereinband. Mimmel schlug aufs Geratewohl eine Seite auf und fuhr mit dem Finger eine Zeile entlang. »Kurkum, 2 Körbe Kirschen, 2 Golddukaten, 7. Ingerimm, 1 Reto«, las er vor. Er weidete sich an unseren erstaunten, fragenden Blicken und fuhr fort: »Wie ihr wißt, spielt der Handel für uns Zehnteler eine wichtige Rolle, eine sehr wichtige sogar! Ein Handel ohne Buchführung ist schäbig. Wie aber soll man das Buch führen, wenn man keine Schriftsprache besitzt? Die Sprache der Zehnteler kennt wohl Zahlen, aber keine Schriftzeichen. Also muß der Buchführer nicht nur gut rechnen können, sondern auch eine Schriftsprache – die eure nämlich – beherrschen.«
»Dann bist du der Buchführer, nehme ich an?« fragte Larix.
Auf Mimmels Stirn stand plötzlich eine zornige Falte. »Ich bin der Häuptling der Zehnteler! Sollte etwa ein Geringerer als der Häuptling das Handelsbuch führen?«
»Nein«, erwiderte Larix, »natürlich nicht. Vergib mir meine einfältige Frage.«
Mimmel hatte seine gewohnte Liebenswürdigkeit wiedergefunden. »Schon gut, schon gut!« flötete er. »Ihr kennt euch eben mit unseren Gebräuchen nicht aus. – So, nun laßt uns speisen und trinken! Ihr werdet gewiß sehr hungrig und durstig sein!«
Der Häuptling klatschte in die Hände. Am Saaleingang veranstalteten die Stammeswürdenträger, einige grauhaarige Männer und Frauen, die offenbar schon seit einer Weile ungeduldig draußen gewartet hatten, ein ziemlich würdeloses Gedränge.
Mimmel begrüßte sie mit über der Brust gekreuzten Armen. »Nicht rücken!« ermahnte er uns. »Unter uns Feilschern gilt das unverbindliche Kopfnicken als Geste der Bedrohung. Grüßt so wie ich oder meinetwegen mit einem ehrlichen Handschlag ...«
Bald waren alle Plätze an der riesigen Tafel besetzt. Wir hockten auf unseren Korbschemeln hinter einem Tisch, der uns nur bis zu den Knien reichte, und versuchten, die neugierigen Blicke von über hundert Augenpaaren möglichst gleichmütig zu erwidern. Mimmel, dessen Kopf sich dank des hohen Throns mit uns auf Augenhöhe befand, deutete fortwährend auf die Schar seiner Untertanen, um uns jeden einzelnen vorzustellen. Ich glaubte Nipper und Mams unter den Anwesenden zu erkennen, aber die Feilscher sahen einander so ähnlich, als ob sie alle einer großen Familie angehörten. Ein wenig glichen sie teuren Puppen, so als ob wir uns im Spielzimmer einer Prinzessin oder reichen Händlerstochter befänden, die ihre Schätze ringsumher aufgereiht hätte. Die männlichen Feilscher bevorzugten für ihre Kleidung grünen und braunen Samt, mit blinkenden Messing- oder Goldknöpfen verziert. Viele trugen silberglänzende Schärpen um die runden Bäuche. Die kleinen Füße steckten in schmalen Schuhen mit eingerollter Spitze. Die kleinen Frauen trugen steife, golddurchwirkte Stoffe von Purpur oder leuchtendem Blau, die knielangen Röcke standen wie Lampenschirme von ihren Beinchen ab, die ihrerseits von engen Strümpfen aus Al'Anfaner Seide umhüllt waren. Silber-, Gold- und Perlenschmuck blinkte üppig an den kurzen Armen und Hälsen. Die weiblichen Feilscher hatten noch hellere Stimmen als ihre Männer – und wenn mehrere von ihnen gleichzeitig kicherten, schrillte ein durchdringendes Klingeln fast schmerzhaft in meinen Ohren.
Ich fragte den Häuptling nach dem seltsamen Namen, den sich die Zehnteler selber gaben.
»Wir wissen nicht genau, woher er stammt«, antwortete der Häuptling. »Einige sagen, er komme daher, daß der Häuptling von jedem Geschäft, das ein Zehnteler tätigt, ein Zehntel abbekommt, andere behaupten, unser Volk habe einst die Zahl Zehn erfunden, und dann gibt es noch eine sehr grausame Deutung: Angeblich sollen wir in der
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