Die Gabe der Amazonen
herab. Das Gesicht war schmerzverzerrt und schmutzig, so daß das Alter der Diebin schwer zu schätzen war.
Die Frau hatte eine Weile völlig reglos an dem Strick gehangen. Jetzt knickte sie plötzlich in der Hüfte ein, riß Oberkörper und Hände hoch und versuchte verzweifelt, die Schlinge um ihre Fußgelenke zu erreichen. Junivera zog sie an den Haaren wieder nach unten. Elgor ging zur Eiche und wickelte das Tauende ab.
»Halt, was tust du?« rief Larix.
»Ich lasse sie herunter«, erklärte der Ritter. »Wie lange soll sie denn noch dort hängen bleiben. Paßt auf, daß sie euch nicht entwischt!«
Tatsächlich krabbelte die Gefangene, kaum daß ihre Hände den Boden berührten, wie von Furien gehetzt über den Waldboden. Elgor zog das Seil stramm. »Am besten bindet ihr sie zuerst«, schlug er vor.
Viburn und Junivera bogen der Diebin die Arme auf den Rücken und schnürten ihre Handgelenke, Füße und Knie mit Lederriemen zusammen. Dann ließ Viburn die Frau sanft auf den Boden sinken. Während wir im Kreis um Larix' Beute standen, fachte Viburn das Feuer an und legte ein paar Scheite auf.
»Los, tragt sie hier herüber!« rief er.
Larix starrte wie wir tatenlos auf die reglose Gestalt herab. »Schiefer und Gneis, sie ist aber dünn!« murmelte er.
Elgor stieß mich unsanft zur Seite, bückte sich, warf sich die Gefangene über die Schulter und trug sie zum Feuer, wo er sie zu Boden gleiten ließ. Die Diebin blieb auf der Seite liegen und rührte sich nicht. »Sie scheint keine Angst vor Feuer zu haben«, stellte Viburn fest, holte seine Decke und breitete sie über den nackten Leib.
Wir ließen uns ebenfalls am Feuer nieder.
»Was tun wir mit ihr?« fragte Elgor.
»Sie wird sterben«, entschied Junivera.
»Was soll das?« Viburn holte das schwarze Tuch, in das die Gefangene gekleidet gewesen war. »Wir Streuner kennen nicht viele Gesetze, aber an eines halten wir uns: Nimm kein Leben, wenn du keinen vernünftigen Grund dafür hast.«
»Aber wir haben einen Grund. Wir können sie nicht laufenlassen, weil sie uns dann wieder bestehlen wird, und wir können sie ja wohl kaum mit uns schleppen.«
Elgor sah Junivera an. Sein Blick war ernst und entschlossen. »Ich weiß, daß ihr Rondrageweihte eurer Göttin allzu gern ein Blutopfer bringt. Ich habe auch beobachtet, wie deine Göttin dir heute geholfen hat, und kann mir denken, daß du in ihrer Schuld stehst. Aber ich sage dir, Junivera – und bitte, höre mir gut zu: Ich erschlage jeden, der einen hilflosen Gefangenen tötet.«
Juniveras dunkle Augen blitzten. »Aber sie wäre nicht hilflos, sie könnte die Waffe wählen. Ich würde sie nur im Kampf töten.« Elgor schüttelte den Kopf. »Du bist im Kampf mit jeder Waffe geschult, und sie ist offenbar eine Wilde, die kaum weiß, wie man ein Schwert anfassen muß. Außerdem ist sie halb verhungert. Was du vorhast, nenne ich nicht Kampf, das nenne ich Mord.« Viburn warf Junivera das schwarze Tuch der Gefangenen zu.
»Hier, sie trug deinen Umhang.«
Mit weitaufgerissenen Augen starrte die Gefangene ins Feuer. Das eckige Kinn und die Mundwinkel waren schmutzverkrustet, staubbedeckt auch die Haut, die sich über den hohen Wangenknochen spannte. Die gerade Nase ragte spitz aus dem ausgezehrten Gesicht. Den Haaransatz über der hohen Stirn säumte ein dunkler Rand.
Ihre Unterlippe bebte, ihr Körper zitterte unter der Decke, aber die Waldfrau bewegte sich nicht, sondern lag reglos zu unseren Füßen wie ein gefangenes Tier.
Ich brach ein Stück Brot ab und hielt es der Wilden vor den Mund. Sie schnupperte kurz daran und biß dann so heftig zu, daß sie fast meinen Finger verletzt hätte. Ich hielt ihr ein zweites Stück hin, diesmal nahm sie es mir vorsichtiger ab. Viburn lief zu seinem Ranzen, schnitt Stück um Stück von einem Käse ab und stopfte die Würfel in ihren Mund. Nach einer Weile erst drehte sie den Kopf zur Seite.
»Danke«, sagte sie.
Wir saßen wie vom Donner gerührt.
»Du kannst sprechen?« murmelte Elgor. Jeder von uns hatte angenommen, daß sie stumm sein müßte.
»Ja.«
Die Gefangene ruckte mit dem Oberkörper. Offensichtlich wollte sie sich aufrichten. Viburn sprang hinzu, um ihr behilflich zu sein. Die Diebin würgte, und ein Gemisch aus Brot und unzerkautem Käse ergoß sich auf Viburns Knie.
Der Streuner richtete unbekümmert zunächst die Frau auf, dann erhob er sich und wischte den Brei von seiner Hose.
»Du hast zu schnell gegessen«, sagte er.
»Ja.«
»Wie
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