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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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mitten im Ziel. Mädchen stieß einen Freudenschrei aus und schlang mir die Arme um den Hals.
    »Oheim!« rief sie dabei. »Lieber Oheim!«
    »Du hast schon früher mit Pfeil und Bogen geschossen«, sagte ich, doch mir fiel ein, daß sie zwar meinen Bogen gestohlen, den Köcher mit den Pfeilen aber zurückgelassen hatte. Das würde ein Bogenschütze niemals tun.
    Mädchen hielt mir die offene Hand hin, ich gab ihr einen zweiten Pfeil. »Wer ist Oheim?« fragte ich.
    Sie schoß. Der Pfeil schlug eine Handbreit über dem ersten ein. Ein prachtvoller Schuß! Mädchen lachte mich an. Den dritten Pfeil setzte sie, nachdem sie einen Augenblick lang mit ungewohnt ernster Miene das Ziel betrachtet hatte, genau zwischen den ersten und den zweiten.
    Ich muß sie wohl sehr verwundert angestarrt haben, denn sie begann, verlegen lächelnd, von einem Fuß auf den anderen zu treten. »Wie hast du das gemacht?« fragte ich schließlich.
    »Was gemacht?«
    »So genau geschossen – du schießt besser als ich.«
    Mädchen hob die Schultern und kehrte die Handflächen nach oben. »Ich weiß es nicht. Ich habe nichts gemacht – nichts Besonderes. Ich habe mir nur vorgestellt, wo der Pfeil hinfliegen soll, und dann habe ich die Sehne losgelassen, und der Pfeil ist geflogen. Mehr nicht.«
    »Man muß sehr lange üben, um so gut schießen zu können«, beharrte ich. »Wer hat es dir beigebracht?«
    Mädchen strahlte mich an: »Du!«
    »Und du hast wahrhaftig vorher niemals mit Pfeil und Bogen geschossen?«
    »Nein, nie!«
    »Du hast! Lüg mich nicht an!«
    Sie hob verzweifelt die Brauen – ihre Unterlippe zuckte. Ich gab auf und marschierte zu dem toten Baum hinüber, um meine Pfeile einzusammeln. Mädchen trippelte neben mir her. »Oheim ist ein Mann«, sagte sie unvermittelt. »Ich bin eine Frau.« Sie faßte mich ans Kinn. »Du bist auch eine Frau.«
    Ihre eigenwillige Einteilung der Menschengeschlechter verblüffte mich. Ich blieb stehen. »Was ist Junivera, deiner Meinung nach?«
    Mädchen runzelte verdutzt die Stirn. »Eine Frau, natürlich.«
    »Und Larix?«
    »Ein Mann.«
    »Wie steht es mit Elgor und Viburn?«
    Bei den zuletzt Genannten war sich Mädchen offenbar nicht sicher. »Erst waren sie Frauen, jetzt sind sie Männer.«
    Mädchen strich mir leicht mit den Fingern über das Kinn, und ich begriff: Elgor und Viburn hatten sich in Rommilys zuletzt rasiert, zwei Tage, bevor wir Mädchen begegneten. Zuerst waren ihre Stoppeln kaum sichtbar gewesen, nicht mehr als ein dunkler Schatten am Kinn, aber inzwischen waren ihre Bärte kräftig gewachsen.
    »Hat dir dein Oheim beigebracht, wie man Männer und Frauen unterscheidet?« fragte ich, während ich die Pfeile aus dem weichen Holz zog und in meinem Köcher verstaute.
    Mädchen nickte.
    Ihr Haar war jetzt nur mehr fingerlang. Viburn hatte sie am Abend unseres ersten gemeinsamen Tages gewaschen und ihr mit einem Dolch die Haare geschnitten. »Sie ist etwas zu tierlieb«, hatte er erklärt, »hält sich ein paar hundert Haustiere allein auf dem Kopf und in den Haaren ...«
    Es war inzwischen viel leichter geworden, mit Mädchen zu sprechen. Seit sie begonnen hatte, mit uns zu reden, fielen ihr ständig neue Worte ein. Aber sie hatte einen seltsamen Wortschatz. Manchmal überraschte sie uns, zum Beispiel, wenn sie uns nach der ›Reinheit unserer Seelen‹ fragte, dann wieder wußte sie nicht, daß man einen Dolch Dolch und einen Bogen Bogen nennt.
    Über ihre Kindheit berichtete sie ziemlich wirr. Scheinbar hatte sie ihr ganzes Leben bei diesem Oheim verbracht, der in einer Höhle hauste, ähnlich der, in der wir zur Zeit untergekommen waren. Der Oheim hatte ihr erzählt, daß es irgendwo andere Männer und Frauen gebe, aber sie war nie einem solchen Wesen begegnet.
    Mädchen behauptete, sie sei zwei Jahre alt. »Zwei Winter und zwei Sommer«, sagte sie.
    Oheim war vor kurzem gestorben. »An einem Tag im Sommer konnte er nicht mehr aufstehen. Wir haben alles aufgegessen, was Oheim in der Höhle hatte, aber wir haben nichts für den Winter beschafft. Wir hatten großen Hunger, denn die Pflanzen und Körner, die man im Winter essen will, muß man im Sommer sammeln. Oheim hat mir nie gezeigt, welche Pflanzen ich sammeln mußte, und jetzt hat er nicht mehr mit mir gesprochen. Als er dann plötzlich ganz kalt war, habe ich mir gedacht, er muß wohl tot sein. Da habe ich die Höhle verlassen, um mir irgendwo anders etwas zu essen zu suchen. Aber ich habe lange Zeit nur wenig gefunden, und

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