Die Gabe der Magie
beruhigen, erschreckte sie jedoch auf diese Weise nur. Der
schnellste warf sich gegen das Glas und fiel zu Boden. Sofort rannte ich zu
ihm, um ihn aufzuheben. Er war tot, sein Genick gebrochen. Als ich begriff,
dass ich die anderen noch mehr aufgeschreckt hatte, prallte bereits ein
weiterer gegen das Glas und starb. Ich hob auch ihn auf und hielt beide in
meinen Händen. Sie waren so winzig, so schön, und ich hatte sie umgebracht.
Unmittelbar darauf setzte ich mich hin und
hielt ganz still. Sofort verlangsamten die anderen ihren Flug. Drei weitere
prallten gegen das Glas, überlebten es jedoch. In einem Pulk flogen sie zu
einer Seite der Einfriedung, um nach einem Ausgang zu suchen. Zumindest dachte
ich das. Es dauerte lange, bis mir klar wurde, dass außerhalb der Einfriedung
eine Geißblattranke wuchs. Nicht die Freiheit war ihr Ziel: Sie hatten Hunger.
Eine ganze Weile später bemerkte ich die Öffnung
in der Ecke der Glaseinfriedung. Sie war sehr klein, kaum groß genug, dass die
Kolibris sich hindurchschieben konnten.
Keiner von ihnen hatte sie bislang
entdeckt, da sie sich auf der gegenüberliegenden Seite der Einfriedung befand.
Die Vögel schienen wirklich sehr hungrig zu sein. »Lass sie raus«, hatte Jux
gesagt. Ich hatte angenommen, dass er den Käfig meinte. Doch vielleicht sollte
ich sie aus der gläsernen Einfriedung lassen?
Während ich ihnen weiter zusah, erschien
es mir, als würden die anmutigen kleinen Vögel langsam schwächer. Würden sie
vor Erschöpfung zu Boden fallen? Es gab nirgendwo einen Platz für sie, um sich
niederzulassen und auszuruhen. Ich konnte natürlich einfach die Tür öffnen und
sie hinauslassen – doch was war, wenn ich mich irrte? Nachdem ich meine Gedanken
mithilfe des vierten Musters in den größten Kolibri übertragen hatte, sah ich
die Welt für einen Moment durch seine Augen, ehe meine Gedanken die seinen
wieder verdrängten. Doch ich hatte ihn dazu gebracht, sich zu fragen, ob nicht auf der anderen Seite vielleicht ein Ausgang
liegen könnte.
Es dauerte etwa zehn
Minuten, bis der Vogel die kleine Lücke gefunden hatte. Als er draußen war, schoss er sofort in
einem steilen Bogen um die Einfriedung herum und stürzte sich auf das Geißblatt
auf der anderen Seite. Einer der anderen hatte gesehen, wie er die Einfriedung
verließ. Auch er flog zu der Ecke und fand den Weg nach draußen. Als Jux
zurückkehrte, hatten die restlichen Vögel die Einfriedung verlassen und pickten
an dem Grün.
»Warum wollten sie hinaus?«, fragte Jux.
»Weil sie Hunger hatten«, antwortete ich.
»Warum hast du ihnen geholfen?«, fragte er
streng.
Etwas schnürte meine Brust ein. Hatte er
vielleicht doch nur den kleinen Käfig gemeint? Verstieß es denn sogar gegen die
Regeln, einem Tier zu helfen? Hätte ich das etwa wissen sollen?
Dann zwinkerte Jux mir zu. »Geh.«
Später wurden Gerrard und ich zu einer
weiteren Kammer geführt. Somiss hatte einen neuen Sessel, größer,
beeindruckender, mit Seidenkissen in der Farbe von Saphiren. Neben ihm befand
sich ein Fackelständer. In Somiss’ Augen spiegelte sich kaltes Feuer. Wir saßen
auf dem Boden vor ihm. Die Kammer war kalt. Warum?
»Du«, sagte er und deutete auf Will.
»Trage das Lied vor.«
Will stand auf und begann plötzlich zu
zittern, als der Fackelschein sein Gesicht traf. Schon das erste Wort ließ
Somiss ihn wiederholen und korrigierte fast jedes folgende. Es war schrecklich
mitanzusehen. Luke schlug sich besser, ebenso Jordan und Levin. Ich nicht. Ich
hatte diesen verdammten Kolibris zugesehen, statt zu lernen. Dieses Mal sprach
ich viel mehr Wörter falsch aus und blieb sogar in der Mitte des letzten Verses
stecken, sodass ich von vorn beginnen musste. Gerrard jedoch trug das zweite Lied vor und patzte nur sieben Mal bei der Aussprache.
Als er fertig war, machte Somiss eine
Geste, um uns zu entlassen, und sein Stuhl erhob sich in die Luft. Wir alle
starrten ihn an, als er in der Dunkelheit jenseits der höchsten Ausläufer des
Fackelscheins verschwand. Als wir gingen, sprach niemand ein Wort, doch ich
sah, wie jeder von uns Gerrard Blicke zuwarf.
Ich ging direkt an unserem Raum vorbei zur
Speisehalle, betrat sie jedoch nicht, sondern hielt mich in Richtung der Halle
der Hoffnung. Ich rannte, um es bis zur ersten Biegung zu schaffen, falls
jemand hinter mir gewesen war. Erst als ich den engen Tunnel erreicht hatte,
verlangsamte ich mein Tempo wieder, während mir bereits das Wasser im Mund
zusammenlief und mein
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