Die Gabe der Magie
Schritt darauf zu.
»Ihr müsst eure eigene Nahrung
heraufbeschwören«, sagte Franklin mit gleichmütiger, erschöpfter Stimme. Und
mit diesen Worten riss er die Platte vom schwarzen Steinpodest und schleuderte
sie zur Seite weg. Äpfel, Kuchenstücke, Käse und gebratenes Fleisch verstreuten
sich über den Boden und begannen zu flackern, als sie den Stein berührten. Und
nur einen Augenblick später war alles fort – verschwunden.
»Nein«, hörte ich Levin flüstern.
Dann herrschte nur noch schmerzhafte
Stille im Zim mer. Franklin sah traurig aus,
und jede Falte in seinem Gesicht schien tief eingegraben. Aber seine
Schultern waren straff, und als er
weitersprach, klang seine Stimme gefasst.
»Ihr könnt lernen, das Gleiche zu tun.
Schließt eure Augen. Ihr alle. Und lasst sie zu.«
Ich gehorchte. Ich glaube, das tat jeder
von uns. Mein Magen schmerzte, und ich lauschte mit meinen Ohren, meinem
Herzen, meinem ganzen Körper.
»Stellt euch ein Spielzeug vor, das ihr
liebtet, als ihr noch klein wart«, trug uns Franklin auf. »Wählt etwas, mit dem
ihr stundenlang gespielt habt und das ihr stundenlang angeschaut habt.«
Ich schwankte und spürte, wie meine
Schultern gegen die von jemand anderem stießen, aber ich schlug die Augen nicht
auf. Ein Spielzeug? Die Dunkelheit hinter meinen eigenen Lidern fühlte sich
unendlich und weit an. Und dann kam mir das blaue Pferd in den Sinn. Mein Vater
hatte es von einer seiner Reisen mit nach Hause gebracht. Ich konnte mich nicht
erinnern, woher genau es stammte oder warum er es mir schenkte. Aber mit aller
Deutlichkeit entsann ich mich, wie es sich in meinen Händen angefühlt hatte.
Der Stein, aus dem es gehauen worden war, war schwer und selbst im Sommer kühl.
Das Pferd bäumte sich auf, und der Künstler hatte den Schweif so geformt, dass
er mit der Hinterhand des Pferdes ein Dreibein bildete. Es konnte draußen auf
der Erde, auf Fußböden und tiefen Teppichen stehen und mit seinen kleinen
blauen Hufen in den Himmel auskeilen. Ich hatte oft so getan, als ob es im
Galopp durch den Wald preschte. Ich erinnere mich an eine kleine Scharte im
Stein, die entstanden war, als ich das Pferd eines Abends auf den Ofen fallen
ließ. Ich hatte geweint, und mein Vater hatte mich geschlagen, bis ich Ruhe
gab.
Mit einem Mal fiel mir auf, dass Franklin
schon lange kein Wort mehr gesagt hatte. Ich versuchte, meine Augen zu öffnen,
und stellte fest, dass mir das nicht möglich war. Das machte mir Angst, aber
ich konnte den festen, gleichmäßigen Atem der anderen rings um mich herum
hören. Meine Furcht legte sich.
Ich hatte endlos mit dem Pferd gespielt.
Ich erinnerte mich daran, wie ich mit hohen, aufgeregten Schreien ein Wiehern
nachahmte und mir vorstellte, das Pferd könne meine Mutter retten, wenn mein Vater
böse auf sie war. Ich malte mir aus, wie es sich zwischen die beiden schieben
und meinen Vater mit einem kalten Blick aus seinen blauen Augen fixieren würde,
sodass er es nicht wagen würde, sie zu berühren.
»Hahp?«
Es war Franklins Stimme. Einen Moment
später spürte ich seine Hände auf meinen Schultern und öffnete die Augen.
»Erinnerst du dich an ein Spielzeug?«
Ich nickte.
»Steht es dir ganz deutlich vor Augen?«,
fragte er, und ich nickte wieder.
Er führte mich näher an den Edelstein und
schob meinen bleiernen Körper vorwärts, bis ich in Reichweite des Juwels stand.
Aus dieser Nähe konnte ich sehen, dass jede
winzige Facette selbst noch einmal geschliffen wor den war. Wie war das möglich? Ich wusste, wie man Dia manten
bearbeitete; ich hatte den Juwelier meiner Mutter bei der Arbeit gesehen. Aber
wer könnte etwas Derartiges schleifen?
»Hahp?« Franklins
Gedanken stoben in alle Richtun gen
wie erschrockene Vögel. »Stell dir das Spielzeug vor«, flüsterte er. »Wenn du
es klar und deutlich vor Augen hast, wenn du es ganz und gar hören und riechen
und spüren und schmecken kannst, dann berühre den Stein.«
Seltsam getragen vom Hunger reiste ich
weit genug zurück in der Zeit, um mit dem Pferd zu spielen, es in meinen Händen
zu halten, es gegen Nase und Mund zu pressen. Ich hörte das glatte, raschelnde
Geräusch meiner seidenen Tunika und das Knacken der Fichtennadeln, die brachen,
als ich mit meinem Spielzeugpferd auf dem Boden entlanggaloppierte. Ich
erinnerte mich an den merkwürdigen Geschmack von nassem Stein, als ich an dem
Pferd leckte, um zu prüfen, ob es vielleicht aufgrund seiner Farbe nach Blaubeeren
schmeckte.
Erst dann
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