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Die Gabe der Magie

Die Gabe der Magie

Titel: Die Gabe der Magie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Duey
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waren nur halb geöffnet. Levin, Jordan,
Luke und der Junge, von dem ich glaubte, dass er Tally hieß, standen eng
beieinander. Gerrard befand sich ganz am Ende der Reihe und hielt sich wie
üblich etwas abseits. Sein Gesicht war reglos und seine Arme verschränkt. Er
sah weder eingeschüchtert noch verzweifelt aus, und ich hasste ihn dafür.
    Franklin schwieg, als warte er auf etwas.
Auf was wohl? Dass einer von uns tot umfiele? Wieder rieb ich mir die Augen.
Das Licht schmerzte .
    »Wir fangen an«, sagte Franklin.
    Und wir alle fühlten uns in die Muster
ein, die sie uns angewöhnt hatten, und atmeten langsam im Gleichklang ein. Dann
öffneten wir unsere ansonsten geschlossenen Lippen und gestatteten uns auszuatmen,
langsam, gleichmäßig. In diesem Kreislauf kursierte die Luft beinahe ohne
Unterbrechung. Ich schloss die Augen und fand Trost in dem Klang, an den wir
uns schon so gewöhnt hatten, und dem Rhythmus des Atems, der sich über die
Stille der Steine legte wie eine Decke über ein Bett. Franklins Unterricht war
der einzige Moment, in dem ich nicht starr vor Entsetzen war.
    Ich spürte, wie sich
meine Muskeln lockerten. Dann, ohne jeden Grund, hatte ich meine Mutter vor Augen,
wie sie draußen vor dem Arbeitszimmer meines Vaters stand. Die schwere Tür war
verschlossen und verriegelt, aber sie hatte ihr Ohr auf das Holz gepresst und
weinte leise über das, was sie da hörte. Dann sah ich mich selbst, wie ich die
lange, gewundene Treppe hinabstieg. Ich war erst vier oder fünf Jahre alt, aber
ich wusste, dass es Zeit wäre, mich zu verstecken. Mein Vater hasste es, wenn
meine Mutter weinte. Celia stand weder am Backtisch noch in der höhlenartigen
Vorratskammer. Sie kehrte erst viel später in die Küche zurück, ihr Haar gelöst
und ihre Wangen gerötet. Ich konnte sie sehen, als wäre ich noch immer fünf
Jahre alt und stände mit ihr im Zimmer. Rasch schlug ich die Augen auf, um die
Bilder zu ver treiben, dann jedoch
musste ich sie wieder schließen, weil das gleißende Licht mich so blendete.
Ohne es zu wollen, zum ersten Mal in meinem Leben, begriff ich, wie grausam
mein Vater wirklich war und warum meine
Mutter Celia hasste.
    »Hahp?«, hörte ich Franklin sagen.
»Beruhige deine Gedanken.«
    Mit einem Ruck riss ich die Augen wieder
auf, aber er sah mich nicht an. Er schaute in eine andere Richtung und hatte
uns allen den Rücken zugewandt. Ich blinzelte, dann bemühte ich mich, wieder
den Anschluss zu finden und meinen Atem den anderen anzupassen. Das war das
Einzige, was jetzt noch Sinn machte, das Einzige, was mich retten würde.
    »Schließt eure Augen«, sagte Franklin
laut, ohne sich umzudrehen. Ich gehorchte, und das Dämmerlicht hinter meinen
Augenlidern war tröstlich.
    In meinem Geist wälzte ich die neuen
Erkenntnisse über den Zorn und die Traurigkeit meiner Mutter und über Celia um
und um. Hatte es noch andere gegeben? Warum nicht? Es waren immerzu Dienstmädchen
im Haus, und viele von ihnen waren hübsch.
    Vorsichtig öffnete ich meine Lider ein
Stück, eben genug, um zu sehen, dass Franklin nun am anderen Ende der Reihe
stand, die Hände auf Lukes breiten Schultern. Er beugte sich vor, und ich war
mir ganz sicher, dass er ihm irgendetwas zuflüsterte. Luke nickte und trat
einen Schritt zurück. Franklin sah ihn einen Moment lang an. Ich verlagerte
mein Gewicht auf den anderen Fuß und spürte, wie
ich vor Schwäche die Balance zu verlieren begann. Franklin ging weiter zum
nächsten Jungen, dann zu dem danach. Als er bei mir ankam, sagte er nur drei
Worte: »Du kannst es.«
    »Öffnet eure Augen«, sagte er laut, als er
mit jedem von uns gesprochen hatte, und seine Augen wanderten von einem Gesicht
zum nächsten. »Was ihr tun müsst, ist Folgendes«, begann er. »Stellt euch das Essen
vor, jedes einzelne Detail, und berührt dann den Patyàv-Stein.« Er wandte sich
zu dem riesigen Edelstein um und stand einige Herzschläge lang reglos davor.
Dann drehte er sich seitwärts, sodass wir sehen konnten, wie er beide Handflächen
auf die geschliffene Oberfläche legte.
    Ein blauweißer Lichtblitz flammte auf, und
das seltsam schwache, klagende Geräusch ertönte, als ob Metall über Stein
scharrte.
    Unwillkürlich schrie ich auf, und ich
hörte neben meiner eigenen Stimme noch andere. Wir alle beugten uns vor, um das
Tablett voller Speisen anzustarren, das noch reichhaltiger und prachtvoller
bestückt war als jenes, das Somiss hatte erscheinen lassen. Ohne es zu wollen,
machte ich einen

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