Die Gabe der Magie
Somiss hat
behauptet, dass wir uns vielleicht gar nicht mehr so lange plagen müssen.«
»Vergiss es. Das ist nur Wunschdenken«,
erwiderte Franklin, während er die Eingangstür öffnete. Als sie sich ein Stück
vom Haus entfernt hatten und auf dem überfüllten Gehweg liefen, fuhr er fort.
»Somiss’ Vater hat ihn gehasst, seitdem wir klein waren. Selbst wenn er nicht
herausfindet, was wir tun, wird es Somiss nicht wagen, seine Mutter noch einmal
um Hilfe zu bitten.«
Sadima blinzelte. »Wie kann denn ein Vater
seinen eigenen Sohn hassen?«
Franklin wurde langsamer. »Das ist eine
sehr lange Geschichte, die dich nur langweilen würde. Aber es stimmt.« Er
lächelte dünn und angestrengt. »Sein Vater hasst viele Menschen.«
Sadima schüttelte den Kopf, während sie
einen Schritt zur Seite traten, damit ein Verkäufer seinen Karren an ihnen
vorbeiziehen konnte. »Das ist sehr traurig.«
Franklin nickte. »Ja, das ist es.« Er sah
Sadima an. »Und es ist ernster als das. Alles, was Somiss treibt, das dem König
gefährlich werden könnte, dürfte als Verrat aufgefasst werden, und dann würde
man seinen Vater genauso verdächtigen.«
»Aber warum sollte der König nicht wollen,
dass seine Untertanen zu essen bekommen und die Kranken unter ihnen geheilt
werden?«, fragte Sadima.
Franklin packte sie am Arm. »Weil die
Menschen jedem folgen würden, der das für sie erreichen könnte. Und dann wäre
der König nicht mehr länger König, und das weiß er.«
»Will Somiss das denn?«, fragte Sadima.
»Will er denn König werden?«
Franklin schüttelte den Kopf. »Nein. Er
will, dass die Menschen ihn für seine gute Arbeit
bewundern, weiter nichts.«
Sadima wurde langsamer, als sie die erste
Abbiegung erreichten. »Bist du dir sicher?«
Franklin sah ihr in die Augen, als sie um
die Ecke ge bogen waren. »Ja. Ich kenne ihn,
seit ich drei und er zweieinhalb Jahre alt war. Er wollte schon immer irgendetwas Besonderes machen, damit sein Vater auf ihn stolz wäre. Er würde alles
tun, damit sein Vater ihn liebt.«
Sadima antwortete nicht. Das alles konnte
sie gut verstehen. Ehe sie nach Limòri gekommen war, hatte auch sie sich nichts
mehr gewünscht, als dass ihr Vater sie um ihrer selbst willen liebte – obwohl
sie wusste, dass er das nie können würde. Nun sehnte sie sich nach etwas, das
noch komplizierter war.
Am Brunnen beugte sich Franklin zu ihr.
»Wenn Somiss’ Vater herausbekommt, was wir tun, und wenn er es ernst nimmt,
dann sind wir alle in Gefahr. Wenn es so weit kommt, musst du zurück nach Hause
gehen.«
Erschrocken schüttelte Sadima den Kopf und
sprach, ohne nachzudenken. »Ich gehöre hierher zu dir.«
Franklin lächelte und legte ihr seinen
freien Arm um die Schultern. »Wir sind beide dankbar für alles, was du tust, um
uns zu helfen«, entgegnete er. »Aber wir wollen nicht, dass dir etwas
geschieht.«
Sadima wandte den Kopf ab, um ihren Zorn
zu verbergen. Wir? Somiss war für überhaupt nichts dankbar, und er
verschwendete keine Minute damit, sich um sie zu sorgen – oder um Franklin.
Eine Katze schoss aus einer Gasse und streifte Sadimas Beine im Vorbeirennen.
Sie spürte, wie verzweifelt das Tier nach einem Versteck suchte, ehe die Hunde
erwachten. Es war ein Spiegel von Sadimas eigener Furcht. Wie lange würde es
dauern, ehe Somiss sie alle in Gefahr brachte?
»Befragt er jeden Tag die Leute?«,
erkundigte sie sich bei Franklin. Dieser
zuckte mit den Schultern. »Die Zi geu nerfrau
kommt morgen, hat er gesagt. Er bleibt die meis te Zeit über in seinem
Zimmer.«
»In einigen Tagen kann ich Nahrungsmittel
kaufen«, sagte Sadima. Franklin nickte. »Und wieder rettest du uns.«
Sadima lächelte.
Franklin streichelte ihre Wange. »Ich
werde auch bald genug verdienen, um eine Unterstützung zu sein. Somiss wird
weiterarbeiten, auch wenn er nun wegen der Geschichte mit seinem Vater
sicherlich vorsichtiger sein wird.«
»Erzählt Maude den
Leuten immer noch, dass du Lie der
und Reime erlernen willst?«, fragte Sadima.
Franklin schüttelte den Kopf. »Nein, ich
habe sie gebeten, damit wenigstens vorerst aufzuhören. Andere kennen uns und
wissen, was wir machen, aber nicht warum.«
»Aber wird es denn
Somiss’ Vater nicht herausfinden?«
Franklin schüttelte den Kopf. »Nicht so leicht.
Er wird es für sinnlose Studien halten. Somiss hat sich schon immer für
Sprachen interessiert. Er beherrscht sechs davon. Er ist ein Gelehrter, der in
eine Familie von rücksichtslosen
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