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Die Gabe der Magie

Die Gabe der Magie

Titel: Die Gabe der Magie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Duey
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von vorne sang. Beim vierten Durchgang stimmte
Sadima in die erste Strophe ein und schaffte die Anfangszeilen, ehe sie
durcheinanderkam. Beim zwanzigsten Mal konnte sie alle vier Strophen mitsingen, wenn Hannah sie begleitete. Beim dreißigsten
Mal konn te sie das Lied ganz allein vortragen. Nachdem sie es zweimal
durchgeprobt hatte, legte Hannah die Hände auf den Tisch und erhob sich mühsam.
»Ich gehe jetzt besser.«
    Sadima begleitete sie zur Tür und
verbrachte dann die restliche Zeit damit, beim Putzen das Lied zu wiederholen.
Als die Sonne beinahe am höchsten stand, öffnete sie die Balkontüren erneut und
suchte die Straße ab. Franklin und Somiss waren nicht zu sehen. Trotzdem musste
sie zur Arbeit los, und auch auf diesem Weg sang sie vor sich hin.
     
    RINKA LACHTE, ALS SADIMA IHR VOM ZUS AMMENTREFFEN MIT HANNAH ERZÄHLTE.
    »Die Honigverkäuferin. Ja, ich kenne sie
ein wenig – manchmal kaufe ich etwas bei ihr. Die ganze Familie ist ein wenig
seltsam, aber sie sind ehrlich und arbeiten hart.«
    »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn
ich bei der Arbeit ein bisschen singe?«, fragte Sadima.
    Rinka lachte. »Sing es ruhig hundertmal.
Vielleicht leben wir dann beide länger.«
    Später, als Sadima und Rinka mit einem
neuen Quarkballen beschäftigt waren, dachte Sadima noch einmal an Hannah und
wie sie über ihre Mutter gesprochen hatte. Dann schaute sie Rinka an. »Bist du
verheiratet?«
    Rinka nickte. »Ich war verheiratet. Mit
einem guten Mann. Er ist vor fünf Jahren gestorben.«
    »Kannst du mir von der Liebe erzählen?«,
fragte Sadima leise.
    Rinka hob den Blick.
    »Meine Mutter ist bei meiner Geburt
gestorben«, vertraute Sadima ihr an, und es tat ihr weh, das auszuspre chen. »Ich habe nie jemanden fragen können …« Sie
hat te keine Ahnung, wie sie ihren Satz beenden sollte. Aber Rinka
lächelte. Und sie setzte zu sprechen an, mit einer leisen Stimme, die süß und
schwer vor Liebe und Trauer war.
    Während Sadima ihr weitere Fragen stellte,
antwortete sie offen, ehrlich und ohne ein Anzeichen von Scham oder
Verlegenheit. »Es ist Franklin, nicht wahr?«, fragte Rinka irgendwann.
    Sadima nickte. »Woher weißt du das?«
    »Wenn du irgendetwas von ihm erzählst,
wird deine Stimme ganz weich, auch wenn es nur eine winzige Kleinigkeit ist.«
     
    ALS SADIMA VON DER ARBEIT NACH HAUSE KAM,
WAR ES SCHON DUNKEL, UND FRANKLIN ERWARTETE SIE AN der Tür zur Straße. »Somiss ist in entsetzlicher Stimmung«, sagte
er, und Sadima wusste, dass dies nicht die richtige Nacht war, um ihm zu sagen,
was sie auf dem Herzen hatte.
    »Wohin seid ihr heute Morgen
aufgebrochen?«
    Franklin schüttelte
den Kopf, während sie hineingin gen.
»Er hat es mir verboten, dir oder sonst irgendjemandem davon zu erzählen.«
    Sadima stieg die Treppe empor, ohne zu ihm
zurückzublicken, und blieb oben stehen. »Franklin, deine Loyalität ihm
gegenüber ist …«
    »Ich weiß, dass das für dich schwer zu
verstehen ist«, unterbrach er sie flüsternd und nahm zwei Stufen auf einmal,
damit er rasch zu ihr gelangte und sie ihn verstehen würde. »Somiss ist alles,
was ich habe.«
    »Nein«, sagte Sadima. »Das stimmt nicht.«
Und zum zweiten Mal küsste sie ihn. Daraufhin standen sie reglos da, bis
Franklin sanft seine Lippen auf ihre Stirn presste und einen Schritt
zurücktrat. Sie sah die Flut von Gefühlen in seinen Augen, ehe er sich umdrehte
und auf Zehenspitzen hineinschlich. Sadima folgte ihm und sah, wie er alle paar
Sekunden zum Flur schaute.
    Sie bereitete einen
Eintopf zu und schürte das Feuer. Dann erzählte sie ihm von dem Lied, und er
holte Papier und einen Stift, um die Worte niederzuschreiben. Für jedes Wort,
das sie auswendig gelernt hatte, benutzte er Buchstaben – einen pro Laut,
manchmal auch zwei und ganz selten drei. Der Buchstabe, der für einen
zischenden Laut stand, hatte die Form einer gebogenen Schlange. Es war der
erste in ihrem eigenen Namen. Und, so dachte sie, der erste und der letzte in Somiss’
Namen.
    »Ich danke dir«, wisperte Franklin, als
sie fertig waren. Er beugte sich weiter zu ihr, holte tief Luft und zog sich
dann lächelnd und mit schimmernden Augen wieder zurück. Tränen? »Du riechst
nach Seife«, sagte er. »Hast du alles Wasser aufgebraucht?«
    Sadima nickte. »Ich hole morgen früh als
Erstes frisches …«
    »Ich glaube, ich hole heute Nacht noch
welches«, unterbrach Franklin sie und machte eine vage Geste in Richtung von
Somiss’ Raum. »Vielleicht will er später etwas

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