Die Gabe der Magie
trinken. Würde es dir etwas
ausmachen, die Abschriften anzufertigen, damit ich ein Geschenk für ihn habe,
wenn er das nächste Mal aus seinem Zimmer kommt?«
Sadima seufzte, dann schüttelte sie den
Kopf. »Wie viele?«
Franklin zögerte. »Vermutlich drei. Zwei,
um damit zu arbeiten, und eine zum Aufbewahren.«
Sadima wartete, bis er verschwunden war.
Dann stand sie lauschend am Ende des Flures. Aus Somiss’ Zimmer drang kein
Geräusch. Vielleicht schlief er. Sie setzte sich an den Tisch und machte sich
an die Arbeit, aber sie fertigte vier statt der geforderten drei Kopien an.
Diese zusätzliche Abschrift versteckte sie in dem Kästchen für ihre Farben, nachdem sie sie klein
zusammengefaltet hat te. Als Franklin zurückkam eilte er mit den Kopien
über den Flur, um sie Somiss zu geben.
NACHDEM FRANKLIN ZU BETT GEGANGEN WAR,
ZÜNDETE SADIMA EINE KERZE AN, SETZTE SICH AUF IHRE Decken auf dem Fußboden und starrte auf die zusätzliche Abschrift.
Sie kannte die Worte und wusste bei jedem einzelnen, wie es ausgesprochen
wurde. Sie flüsterte vor sich hin und starrte auf die Buchstabengruppen, ehe
sie das Papier wieder zwi schen ihre Farben
schob. In dieser Nacht dauerte es lan ge, ehe sie einschlief. Sie hatte
einer Lüge eine Lüge entgegengesetzt, wenn man es so sehen wollte, einem
Geheimnis ein Geheimnis, aber das brachte ihr keinen Trost.
In der Dunkelheit erwachte sie von
Schritten im Wohnzimmer, dann Papiergeraschel und gedämpftem Flackern von
Kerzenlicht. Sie stand auf und schob sich lauschend an der Wand entlang. Den
Atem anhaltend beugte sie sich eben so weit vor, dass sie etwas sehen konnte,
dann zog sie sich wieder zurück. Somiss? Nach einem langen Augenblick hörte sie
ihn wieder die Tür schließen und entzündete erneut ihre Kerze.
Drei Abschriften des Liedes, das ein
langes Leben verhieß, lagen nun auf dem Tisch, in dem Stapel Arbeiten, die
Franklin erledigt hatte. Warum sollte Somiss die Papiere jetzt, mitten in der
Nacht, zum Rest der Kopien legen?
Sadima starrte auf die Schrift, dann
wirbelte sie herum und ging zurück in die Küche, um ihre eigene Abschrift zu
holen. Zitternd legte sie zwei der Blätter nebeneinander. Somiss hatte das Lied
noch einmal komplett abgeschrieben, und zwar dreimal. Alle drei waren
identisch, unterschieden sich aber von ihrer Version. Er hatte den Text
verändert. Warum? Um das wirkliche Lied vor ihr und Franklin zu verbergen?
38
NAHRUNG ZU SICH ZU NEHMEN WURDE IMMER
SCHWERER. UND ICH MEINE NICHT, DASS ES SCHWERER wurde,
Essen erscheinen zu lassen. Das wurde leichter. Ich konnte inzwischen fünf oder
sechs Mahlzeiten hervorbringen, ohne viele Gedanken darauf verschwenden zu müssen.
Es war nur so schwer, mich selbst davon zu
überzeugen, dass ich das Recht hat te zu essen.
Die hungernden Jungen gingen in jeder
Sekunde, die sie nicht im Unterricht verbrachten, in den Speisesaal. Tally und
alle von Wills Zimmergenossen saßen mit trüben Augen und traurig auf den Bänken
und standen hin und wieder auf, um sich noch einmal an dem Stein zu versuchen.
Sie waren wie Vogelscheuchen.
Für mich war es eine Qual, an ihnen
vorbeizulaufen, Essen entstehen zu lassen und den Saal wieder zu verlassen, in
dem Wissen, dass ihre Augen mich verfolgten und sich in ihrem Mund bittere
Spucke sammelte. Ich hörte auf zu essen. Aber nachdem zwei von Franklins Unterrichtsstunden
gekommen und gegangen waren, erschien es mir plötzlich unsinnig. Meine
Verweigerung von Essen half niemandem.
Nach der nächsten Stunde rannte ich zum
Speisesaal. Er war leer. Schweigend sah ich immer wieder zur Tür, während ich
genug Käse und Früchte erschuf, um sie mit zurückzunehmen. Ich schaufelte sie
in den Tragebeutel, den ich erhielt, wenn ich den Saum meines Umhangs umfasste
und hochhob. So rannte ich, wie Gerrard damals, mit nackten Beinen zurück in
unseren Raum.
Gerrard hob den Kopf, als ich eintrat, und
ein sonderbarer Ausdruck lag in seinen Zügen. Er stand auf, wusch sich Gesicht
und Hände, dann verließ er das Zimmer. Es fühlte sich merkwürdig an, ihm nicht
zu folgen, aber es gab keinen Grund mehr, den anderen irgendetwas weismachen zu
wollen.
Ich legte meine Esssachen auf den
Schreibtisch. In diesen Tunneln gab es keine Mäuse und keine Insekten. Gerrard
würde nichts anrühren, und falls irgendjemand sonst unseren Raum finden und die
Nahrungsmittel stehlen sollte, so wäre ich froh darüber. Eine Zeit lang konnte
ich also essen, ohne überhaupt in den Speisesaal gehen zu
Weitere Kostenlose Bücher