Die Gabe der Magie
einbog. Einen Moment später stürmte
Somiss an ihnen vorbei, raste zum Tor zur Straße und nahm den gleichen Weg wie der
Junge.
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AUCH IN DER NÄCHSTEN UNTERRICHTSSTUNDE
TAUCHTE TALLY NICHT AUF, EBENSO WENIG WIE
JOSEPH. Levins andere Zimmergenossen hingegen waren dort. Wills
Kameraden ebenfalls, aber sie waren beinahe außerstande, alleine zu laufen.
Will taumelte zwischen Rob und dem anderen Jungen herein, dessen Namen ich nie
gelernt hatte, und er hatte beiden je einen Arm um die Hüften gelegt. Die Jungen
rechts und links von ihm waren so viel größer als er, dass es aussah, als ob er
keine Hilfe sei, aber irgendwie gelang es ihm, die beiden so zu stützen, dass
sie sich aufrecht halten konnten. Ich konnte die Anstrengung auf seinem Gesicht
sehen, aber ich hatte zu viel Angst, aufzustehen und ihm zu helfen.
Franklin starrte auf den Stein über
unseren Köpfen. Versuchte er, seine Gedanken auszublenden? Gelang ihm das denn
immer? Vielleicht waren seine Träume so furchtbar wie meine? Ich hoffte es.
Oder war er so an diesen Anblick gewöhnt, dass es ihm nichts mehr ausmachte? Oder
vielleicht, so dachte ich plötzlich, war er wie die Ponys. Vielleicht blieb ihm
keine Wahl.
Rob stolperte und fiel auf ein Knie. Ich
wollte gerade aufstehen und sah, dass auch Jordan und Leigh ihr Gewicht
verlagerten und sich halb erhoben. Doch in diesem Augenblick bemerkten wir
Somiss im Durchgang und ließen uns wieder zurücksinken. Levin drehte Somiss den
Rücken zu, und Jordan hob das Kinn, sodass er beinahe geradewegs zu der
unsichtbaren Decke emporsah, die sich über uns wölbte, ohne dass der Schein der
Fackeln bis hinauf gereicht hätte.
Auch Franklin grüßte Somiss nicht. Er ließ
uns mit dem dritten Atemmuster beginnen und hob mit seiner ruhigen, festen
Stimme zu sprechen an. Ich konzentrierte mich auf seine Worte, wie ein
ertrinkender Mann ein Boot in der Ferne fixierte. Dann, nach drei weiteren
Übungen sprach Franklin weiter.
»Es gibt drei Tore in eurem Geist«, sagte
er leise. »Oder mehr.«
Unser gemeinsames Atmen stockte, setzte
sich dann aber im Gleichklang fort. Das war etwas Neues.
»Das erste Tor führt in eure unbewussten
Gedanken«, sagte er, »jene, die ihr zur Ruhe zu bringen gelernt habt.«
Die Worte drangen an meine Ohren, aber sie
ergaben nur wenig Sinn, und ich glaube nicht, dass irgendeiner von uns alles
begriff oder es auch nur verstehen wollte . Wie angestrengt auch immer
ich es versuchte, ich konnte nicht aufhören, die beiden schwachen Jungen
anzustarren. Ihre Köpfe waren gesenkt, die Schultern fielen nach vorne, und die
Knochen waren durch die Haut hindurch zu erkennen. Und wo waren Tally und
Joseph? Lagen sie auf ihren Betten, zu schwach, um sich noch zu bewegen? Oder
waren sie schon tot?
Ich folgte Franklins Atemübungen, während
ich in die Schatten starrte und mich fragte, ob Somiss noch immer dort stand
und uns beobachtete. Als der Unterricht vorbei war und Will darauf wartete,
dass sich seine Kameraden unter großen Mühen erhoben, wagte es niemand von uns,
ihnen zu Hilfe zu kommen. Wir alle waren außer uns vor Angst und hatten alle
Vernunft und unser Herz eingebüßt. Ich schämte mich so, dass mir ganz übel
wurde. Aber ich brachte es nicht über mich, ihnen eine helfende Hand entgegenzustrecken.
Ich schaute zu Gerrard. Sein Gesicht war hart und unbeweglich wie die
Felswände.
Langsam und nachdenklich lief ich zurück
zu unserem Raum.
An diesem Abend ging ich früh in den
Speisesaal und stand allein vor dem riesigen Edelstein. Ich schloss die Augen
und sammelte mich so lange, bis das Bild vor meinem geistigen Auge vollkommen
war. Mein Haar war schweißnass vor Anstrengung, als ich endlich meine Hände auf
den Stein legte und unter einem Lichtblitz ein ausgefallenes Abendbrot
entstehen ließ. Es gab Krabbenpastete, Honiglachs, Buttermais und
Bratkartoffeln mit Dill.
Ohne es anzurühren, saß ich dort und
lauschte auf Schritte aus dem Tunnel. Wenn Somiss mich dafür töten wollte, dann
sollte er das tun, aber ich würde mein Abendessen mit irgendjemandem teilen. Ich
warf einen Blick durch den Eingang und hoffte, dass Tally all seine Kraft
aufbieten und durch die Tür geschlurft kommen würde, oder Joseph oder Rob oder
Wills andere Zimmerkameraden. Ich hatte meinen Mut wiedergefunden und auch
meinen Anstand. Wer auch immer hereinkommen würde, dem würde ich dieses Mahl
überlassen, und Somiss konnte meinetwegen Dreck fressen und daran verenden.
Aber es kam niemand.
Das
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