Die Gabe der Patricia Vanhelsing - 5 Patricia Vanhelsing-Romane (Sonderband) (German Edition)
meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.
"Was denkst du?" fragte Tom.
Der angenehme Klang seiner Stimme riß mich aus meinen Gedanken heraus.
"Nichts", sagte ich und schmiegte mich an ihn.
"Du bist auf einmal so schweigsam."
"Und du das genaue Gegenteil, Tom!"
Er lachte. "Ist das ein Vorwurf?"
"Nein, eine Tatsache. Ich rede wie ein Wasserfall und inzwischen müßtest du beinahe meine gesamte
Familiengeschichte kennen... Aber ich weiß noch immer so gut wie nichts über dich..."
"Ist das nicht übertrieben?"
Ich sah ihn an. Er zwinkerte mir zu.
"Vielleicht ein bißchen", gab ich zu.
"Haben wir nicht noch so viel Zeit?" erwiderte er lächelnd. Ich hob die Augenbrauen. "Das weiß man nie, Tom." Er zuckte die Achseln. "So düstere Andeutungen passen gar nicht zu dir!"
"Irre ich mich, oder weichst du meinen Fragen ein wenig aus, Tom!"
Er nahm mich in den Arm, und wir schlenderten weiter die Uferpromenade entlang.
"Da sieht man, daß du ein journalistischer Profi bist, Patti!" meinte er.
"Wieso?"
"Kein Ablenkungsmanöver entgeht deinem Scharfsinn!"
"Du tust gerade so, als würde ich..."
"...mich ausquetschen", vollendete er scherzhaft. "Ganz recht, Patti. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sich jemand fühlt, der so unvorsichtig war, sich von dir interviewen zu lassen."
"Bis jetzt haben es alle überlebt, Tom! Ob du es nun glaubst oder nicht!"
Ich blieb stehen und schaute ihn an. Was wußte ich über ihn? Er war etwa 35 Jahre alt und für eine große Nachrichtenagentur in Übersee tätig gewesen. Keiner in der Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS hatte sich
zunächst erklären können, weshalb jemand, der einen solchen Traumjob hatte, zu einem Boulevardblatt wie die NEWS
ging. Für Tom war das ohne Zweifel ein Karriereknick gewesen. Sein Rauswurf hatte damit zu tun, daß er einige Monate in einem einsamen Kloster verbracht hatte. Pa Tam Ran hieß jener Ort und er lag irgendwo im
undurchdringlichen Dschungel zwischen Laos, Kambodscha und Thailand.
Dort hatte man ihn spezielle Konzentrationstechniken gelehrt, mit deren Hilfe er in der Lage war, sich an seine früheren Leben zu erinnern. Tante Lizzy hatte natürlich sofort weitere Nachforschungen angestellt.
Tom Hamilton jedoch blieb, was diese Sache anging, einsilbig.
Als Kind schon hatte er unter seltsamen Träumen gelitten. Erst die Mönche von Pa Tam Ran hatten ihm gezeigt, worum es sich dabei wirklich handelte. Um Erinnerungen aus vergangenen Leben.
Ich konnte ihn nur zu gut verstehen.
In jeder Hinsicht. Und ich verstand auch, daß er damit zögerte, mehr darüber preiszugeben, so wie auch ich es bisher nicht übers Herz gebracht hatte, ihm von meiner Gabe zu erzählen.
Ich nestelte etwas verlegen am Revers seines Mantels herum.
"Vielleicht hast du recht", sagte ich schließlich leise, während ein kühler Wind von der Themse heraufblies. Im Licht der Laternen war zu sehen, wie sich die
Wasseroberfläche kräuselte. "Wir haben wirklich genug Zeit, Tom..."
Er gab mir einen Kuß.
"Tom", sagte ich dann.
"Ja?"
"Bring mich nach Hause, Tom..."
"Ja."
"...und laß mich in dieser Nacht nicht allein!" Eng umschlungen gingen wir zum Wagen. Er machte mir die Tür auf. Ich setzte mich hinein. Und einen Augenblick später fuhren wir zusammen durch die Nacht. Ich blickte zu ihm hin, sah sein von der Straßenbeleuchtung nur teilweise erhelltes Gesicht im Profil.
Ich liebe ihn! dachte ich und hatte dabei ein Gefühl, als ob ein gutes Dutzend Schmetterlinge in meiner Bauchgegend verrückt spielten.
*
Als ich am nächsten Morgen das Großraumbüro betrat, in dem die Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS
untergebracht war, war dort der Teufel los.
Das Redaktionsbüro ist zwar stets ein Ort, an dem ständiges Kommen und Gehen herrscht.
Eine Atmosphäre hektischer Betriebsamkeit entfaltet sich hier zumeist, was viel damit zu tun hat, das man es bei einer Zeitung mit sehr schnell verderblicher Ware zu tun hat: Neuigkeiten aus aller Welt. Manchmal mußte das ganze Blatt in letzter Sekunde noch mal komplett umgestaltet werden, wenn irgendeine wichtige Nachricht über die Fernschreiber tickerte oder uns eine Agentur sensationelles Bildmaterial zufaxte. Die Leser erwarteten von uns, das wir auf dem aktuellen Stand der Ereignisse waren.
An diesem Morgen allerdings bevölkerten nicht nur die Redakteure und freien Mitarbeiter das Büro, sondern auch noch Männer in blauen Kitteln, die schwere Kisten durch den Raum trugen. Das Stimmengewirr war auch deutlich
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