Die Gabe der Patricia Vanhelsing - 5 Patricia Vanhelsing-Romane (Sonderband) (German Edition)
schon damals skandalös... Und zwar auch deshalb, weil Meany genau wußte, was er tat..."
"Wie meinst du das?"
Tante Lizzy begann jetzt sehr hektisch in Meanys Theorie und Praxis des angewandten Exorzismus und der
Vertreibung übler Geister herumzublättern, bis sie schließlich gefunden hatte, was sie suchte. Sie tickte mit dem Finger auf eine bestimmte Überschrift, rückte sich die Lesebrille zurecht und sah mich dann triumphierend an.
"Hier ist es", erklärte sie. "In diesem Kapitel beschreibt Meany ein Ritual zur Austreibung sogenannter Quantanii."
"Was ist das?"
"In Hermann von Schlichtens Absonderlichen Kulten werden sie unter der Bezeichnung Totenteufel geführt. Es handelt sich um die ruhelosen Seelen von Menschen, die zumeist unter entsetzlichen Umständen ums Leben gekommen sind. Sie können aufgrund der schrecklichen Umstände ihres Hinscheidens nicht ins Totenreich eingehen..."
"Du sprichst von einem ähnlichen Phänomen wie den Rachegeistern?" warf ich ein und erinnerte mich dabei mit Schaudern an die Ereignisse um den geheimnisvollen Leichenwagen, in die ich erst vor kurzem verwickelt gewesen war.
Aber Tante Lizzy schüttelte den Kopf.
"Nicht ganz. Das besondere an den Quantanii soll angeblich sein, daß sie von Menschen Besitz ergreifen können. Aber das ist auch nicht der Punkt, auf den ich hinauswill!"
"Sondern?"
"Meany beschreibt ein Ritual, bei dem dem Besessenen drei schwarze Kreuze auf die Stirn gemalt werden. Dann sagt der Exorzist die Worte..." Tante Lizzy beugte sich über Meanys Buch und zitierte mit gerunzelter Stirn: "Quantanii estor morcutorem!"
"Was soll das heißen?"
"Niemand weiß das, Patti. Meany stellt die Theorie auf, es handele sich um verbalhorntes mittelalterliches Latein, aber das scheint mir ziemlich weit hergeholt. Aber Tatsache ist, daß dieses Ritual den Tod desjenigen bewirkt, bei dem es angewandt wird. Der Quantanii stirbt dann allerdings auch. Meany schreibt, daß man den Tod des Besessenen notfalls in Kauf nehmen müsse, um dem Bösen zu begegnen..."
"Eine fragwürdige Ansicht."
"Für mich ist er ein skrupelloser Mörder, für den der Zweck die Mittel heiligt!"
"Ein Mord mit übernatürlichen Mitteln...", murmelte ich schaudernd.
Tante Lizzy nickte.
"Meany scheint genau das getan zu haben!" Tante Lizzy zuckte die Achseln. "Ich habe den Behörden selbstverständlich Kopien dieser Textstellen zur Verfügung gemacht, aber ich brauche dir wohl nicht zu sagen, wie wenig man das alles ernstgenommen hat. Und nun scheint es erneut geschehen zu sein, Patti..."
Der Wasserkessel pfiff in diesem Moment.
"Einen Moment", sagte Tante Lizzy und war im selben Augenblick auch schon aus dem Raum. "Ich komme gleich wieder", versprach sie.
*
Trotz der Tatsache, daß Tom und ich am nächsten Morgen sehr früh aufbrechen wollten, wurde es an diesem Abend sehr spät. Tante Lizzy und ich stöberten in den alten Folianten nach weiteren Hinweisen, die ich vielleicht verwerten konnte. Ich war wild entschlossen, Brian Meany seine eigenen Schriften unter die Nase zu halten, in denen er schließlich nicht weniger getan hatte, als eine genaue Anleitung zu dem tödlichen Ritual zu geben, das er später durchgeführt hatte.
Auf seine Reaktion war ich gespannt.
Irgendwann - ich hatte den Blick zur Uhr im Verlauf des Abends immer mehr zu vermeiden gesucht - kam ich dann auf die Tagtraumvision zu sprechen, die mich im Redaktionsbüro der LONDON EXPRESS NEWS
heimgesucht hatte. Ich berichtete Tante Lizzy von den sich in grauenhafte Schreckgestalten verwandelnden Bäume, den Wurzeln, die sich wie Schlingpflanzen um die Füße legten, von den bleichen Gesichtern mit den zylindrischen Hüten und den gespenstisch leuchtenden Augen.
"Es war furchtbar, Tante Lizzy", sagte ich. Ich mußte unwillkürlich schlucken. Vielleicht ist diese Vision der unbewußte Grund dafür, daß du noch immer hier in der Bibliothek sitzt, obwohl du längst im Bett liegen müßtest!
sagte eine Stimme in mir. Unwillig mußte ich zugeben, daß
sie vermutlich Recht hatte. Ich hatte Angst. Angst davor, daß
diese alptraumhafte Szenerie mich in meine Träume hinein verfolgte.
Unwahrscheinlich war das nicht.
Tante Lizzy seufzte und legte mir eine ihrer dürren Hände auf die Schulter.
"Ich kann dir auch nicht sagen, was du da gesehen hast, Patti. Es klingt ziemlich abstrus, aber..."
"Auch andere dieser seherischen Träume sind bereits in Erfüllung gegangen, Tante Lizzy. Und manche von ihnen waren mindestens
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