Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Haare.
Er deutete auf einen Maurer, der in drei Fuß Höhe den rosa Mörtel unendlich langsam auf einen flachen Stein aus Grauwacke strich, und schrie Odo an: »Warum arbeiten die alle so langsam? Das Fundament sollte längst fertig sein!« Er schob den Arbeiter zur Seite, setzte einen brotfladengroßen Sandstein auf die Grauwacke, klatschte eine Kelle Mörtel darüber, deponierte darauf einen kleineren Blaustein, der sogleich unter der nächsten nachlässig aufgetragenen tropfenden Mörtelmasse fast verschwand.
»So macht man das«, erklärte der Baumeister und wischte sich die Hände an seinen Ärmeln ab. »Ihr stickt hier doch keinen Wandteppich! Später, bei den acht Pfeilern, da müsst ihr sauber arbeiten, aber doch nicht an Mauern, die im Boden oder unter dickem Putz verschwinden werden! Also spute dich!« Er warf dem Maurer die Kelle zu.
»Du bist selbst schuld, dass es so langsam geht«, entgegnete Odo, »dein Fundament ist unsinnig. Neun Fuß Ausschachtung hätten völlig genügt. Zumal wir besonders massiv mauern lassen. Kein Mensch versteht, weshalb du das Fundament zusätzlich noch mal neun Fuß über Niveau mauern und dann aufschütten lassen willst. Man kann den Höhenunterschied auch müheloser bewältigen, als den Fußboden der Kirche anzuheben. Wer hat je von einem achtzehn Fuß tiefen Fundament gehört!«
Ezra hätte gern erfahren, auf welch mühelosere Weise sich Odo dem Geländeanstieg zu den anderen Pfalzgebäuden entgegengestellt hätte. Wahrscheinlich hätte er Treppenabsätze bevorzugt.
Sie fand die Idee ihres Vaters genial. Wer einen hohen Turm bauen will, muss eben lange am Fundament verweilen. Diese arabische Weisheit hätte sie gern an Odo weitergegeben. Aber natürlich sagte sie nichts, weil sie nicht sprach. Dafür meldete sich Lucas mit leiser Stimme zu Wort: »Hunger beschleunigt die Arbeit nicht.«
»Wieso Hunger?«, fuhr ihn Iosefos an.
Lucas wartete, bis ein mit Steinen beladener Ochsenkarren an ihnen vorübergerumpelt war, und sagte dann: »Die fremden Arbeiter sind seit Wochen nicht entlohnt worden. Und diejenigen, die Frondienste verrichten, haben schon lange keine warme Mahlzeit mehr erhalten. Die Schatzkammer ist leer. So heißt es.« Er hob entschuldigend die Arme und wies zu den bereits fertiggestellten Pfalzgebäuden hinter den hohen Bergen aus angeliefertem Holz und herbeigekarrten Steinen. »Tausende arbeiten hier. Die müssen essen, Meister.«
Iosefos blieb der Mund offen stehen. Der Gedanke, seinem Bauherren, gar einem König, könne das Geld ausgehen, war ihm nie gekommen. Das wäre in Bagdad auch unvorstellbar gewesen – Harun hätte eine neue Stadt mit tausend Kuppelbauten errichten lassen können, ohne dass er merklich ärmer geworden wäre. Er soll nicht einmal mit der Wimper gezuckt haben, als er kurz vor Iosefos’ Abreise seinen Wesir beauftragt hatte, für eine einzige Perle, die berühmte al-Yatima, siebzigtausend Golddenare auszuzahlen.
Iosefos griff in sein Wams und zog den Lederbeutel hervor, den ihm Karl am ersten Abend überreicht hatte. Frisch geprägte Denare für seine persönlichen Ausgaben, hatte der König gesagt und ihm ausführlich von seiner jüngsten Münzreform vorgeschwärmt. Iosefos nahm eine der Silbermünzen heraus.
»Maurer!«, rief er und warf das Geldstück dem Mann zu, »hier hast du deinen Lohn!«
»Viel zu viel!«, schimpfte Odo, »jetzt musst du jedem etwas geben. Mein Gott, sieh nur, was du angerichtet hast!«
Iosefos hatte schlecht gezielt. Die Münze war an dem langsamen Arbeiter vorbei in das Südwestjoch gefallen, eines der acht großen ummauerten Vierecke, die mit Steinen, Ziegelbruch, alten Keramikscherben und vor allem mit Ziegelmehl gemagertem Kalkmörtel gegen aufkriechende Feuchtigkeit aufgefüllt wurden. Ein Schwarm von Arbeitern stürzte auf das Loch zu. Jeder versuchte, nach der Münze zu graben. Unter viel Geschrei hub ein großes Gerangel, ein Schlagen, Stoßen und Stechen an. Kellen und Meißel wurden geschwungen, kräftige junge Männer schoben Ältere zur Seite und prügelten sich miteinander. Der Maurer, dem die Münze hatte zukommen sollen, kroch mit blutender Stirn zur Seite und hob anklagend die Hand, auf die jemand getreten war.
»Halt, halt!«, übertönte Iosefos den Lärm. Er hielt den Lederbeutel in die Höhe. »Die Vorarbeiter sollen herkommen! Ihr werdet alle bezahlt!«
Inzwischen waren auch die Aufseher herbeigeeilt. Sie sorgten mit ein paar Stockhieben für Ordnung und vertrieben die
Weitere Kostenlose Bücher