Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Geldsucher von dem Loch. Allerdings wagten sie nicht, den Sohn des fränkischen Baumeisters daran zu hindern, im Schutt des gemauerten Vierecks nach der heruntergefallenen Münze zu suchen. Lucas fand sie zwar auch nicht, tauchte aber verstaubt und schmutzig mit strahlendem Lächeln auf.
»Hier ist sie«, verkündete er laut und tat, als reichte er das Silberstück an Iosefos weiter, der gerade damit beschäftigt war, seinen gesamten verbliebenen Besitz an die Vorarbeiter zu verteilen.
Ezra, die dicht neben ihrem Vater stand, hatte die Täuschung bemerkt. Fragend zog sie die Augenbrauen hoch.
»Ein Silberdenar – oder wie die Leute hier sagen, ein Pfennig, ist ungeheuer viel wert«, flüsterte Lucas ihr ins Ohr. »Wir dürfen niemanden in dem Glauben lassen, dass die Münze noch da unten liegt.«
Verärgert schüttelte Iosefos seinen leeren Lederbeutel.
»Das hole ich mir vom König zurück«, murrte er.
»Da kommt der Mann, der deinen Antrag entgegennehmen wird«, bemerkte Odo und wies mit der Hand auf Einhard, der ungewöhnlich schnellen Schrittes auf sie zueilte. Den langen weißen Gegenstand in seiner ausgestreckten Hand hatte er wie ein Schwert zum Schlachtengruß erhoben. Des Königs Schreiber war sichtlich erregt.
»Wisst ihr, was das ist?«, keuchte er anklagend, als er das Grüppchen erreicht hatte. Er hielt Iosefos den Gegenstand unter die große Nase.
»Ein Knochen«, antwortete der Baumeister trocken. »Den können wir unseren Arbeitern schlecht als Lohn vorwerfen.« Er hob seinen leeren Lederbeutel. »Schreiber, sorge dafür, dass sie bezahlt werden. Dass sie zu essen haben und ich mein Geld zurückbekomme.«
»Ein menschlicher Unterschenkel!«, fuhr ihn Einhard an. »Aus einem der Joche. Ich habe ihn in der Auffüllung zwischen Kalk und Ziegelsplitt zufällig entdeckt. Wie kommt er dahin?«
»Jemand wird ihn für einen Tierknochen gehalten haben«, sagte Odo, »da wir zügig arbeiten, bleibt nicht viel Zeit für Überlegungen.«
»Ihr habt die Totenruhe gestört!« Mit zitterndem Zeigefinger wies Einhard auf die Fundamentgräben. »Hier stand eine Kirche; hier wird man Menschen bestattet haben … «
»… nicht zu König Karls Zeiten«, warf Odo ein. »Jeder weiß, dass es bei der Holzkirche keinen Gottesacker gegeben hat.«
Einhard funkelte ihn an und deutete mit der freien Hand nach unten. »Und zu den Zeiten Karl Martells und davor?«, fragte er aufgebracht. »Aufzeichnungen berichten, dass an dieser Stelle Christenmenschen beerdigt worden sind. Was habt ihr mit deren Überresten getan? Wir müssen sie angemessen bestatten!«
Genau das hatte Ezra auch erwartet, als sie bei der Ausschachtung auf die ersten menschlichen Überreste gestoßen waren. Soweit sie wusste, galten den Christen Grabstellen als genauso unantastbar wie den Muslimen. Die Arbeiter waren angesichts der grausigen Funde zurückgewichen und hatten sich aus Angst vor späteren Höllenqualen geweigert, die vermutlich geweihte Erde weiter auszuheben.
Da hatte Odo das Heft in die Hand genommen und eine seiner flammenden Reden gehalten.
»Was fürchtet ihr euch vor den Gebeinen von ungetauften Heiden?«, hatte er die Arbeiter angebrüllt. »Hier standen früher Götzentempel von Kelten und Römern. Das ist alles, was von ihnen übrig geblieben ist. Gottes Himmelreich ist ihren Seelen verwehrt, wenn sie denn eine hatten, aber auf ihren Knochen werden wir zum Ruhm des Herrn seine Kirche errichten. Das ist unsere Christenpflicht.«
Und so kam es, dass die angeblich römischen oder keltischen Gebeine zusammen mit römischen Ziegeln, Aushub und Bauschutt in die Umgangsjoche des Sechzehnecks verfüllt wurden. Iosefos erzählte Odo nichts von den beiden Silberohrringen und der Bronzefibel, die er an zwei weiblichen Gerippen entdeckt hatte. Er steckte sie ein und überreichte sie später Dunja. Die Frau, die in Aachen als die seine galt, sollte sich nicht länger ohne Schmuck zeigen müssen. Nachdem ihm das Gold und das Geschmeide des Kalifen gleich zweimal geraubt worden waren, hielt er es nur für gerecht, sich den Fund zu eigen zu machen. Außerdem wollte er den fränkischen Baumeister nicht mit der Mitteilung verstören, dass die fein gearbeiteten Anhängsel nicht einmal hundert Jahre zuvor in einer Merowinger Werkstatt angefertigt worden sein mussten. Odo hatte schließlich auch kein Wort über die Ausrichtung der Skelette verloren. Schon diese ließ wenig Zweifel daran, dass hier Menschen nach christlichem Ritus beerdigt
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