Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
worden waren.
Davon schien Einhard gleichfalls überzeugt zu sein. Die Baumeister fanden es höchst ärgerlich, dass ausgerechnet er einen menschlichen Unterschenkelknochen entdeckt und diesen auch noch als solchen erkannt hatte.
Der kleine Schreiber blickte über das erst drei Fuß hoch gemauerte Viereck in das zwölf Fuß tiefe halb aufgefüllte Loch, das den Silberdenar verschluckt hatte, und bemerkte: »Unser Herr König wäre untröstlich, wenn er erführe, dass wir die Totenruhe treuer Christen gestört haben. Ihr müsst sämtliche Menschenknochen aus den Verfüllungen hervorholen. Diese Arbeit ist jetzt vorrangig.«
Diese Arbeit würde sie um Wochen zurückwerfen. Während Odo und Iosefos angestrengt nachdachten, nahm Lucas Einhard den Knochen aus der Hand, betrachtete ihn grüblerisch und schüttelte dann den Kopf.
»Seltsam, dass der uns entgangen ist«, sagte er leise. »Noch dazu ein so großer. Ich werde ihn sofort zu den anderen bringen.«
»Zu den anderen?«
»Ja.« Lucas lächelte Einhard an. »Wir haben alle Gebeine in einem Haus nahe der kleinen Kapelle im Handwerkerdorf untergebracht. Um sie unter dem Oktogon zu bestatten, bevor der Estrich gelegt wird. Aber vielleicht hältst du das für keine gute Idee? Wir hätten diesen Plan wohl vorher mit dir abstimmen sollen.«
Ezra wagte kaum zu atmen. Welch eine unverfrorene Lüge! Odo mühte sich, sein Entsetzen zu verbergen. Wie sollten sie so schnell an menschliche Gebeine herankommen? Hatte sein Sohn etwa vor, einen Aachen er Gottesacker zu schänden? Diese Sorge plagte Iosefos nicht. Er schenkte Lucas einen seiner sehr seltenen freundlichen Blicke. Der junge Mann hatte ihnen zumindest etwas Zeit verschafft.
»Wie viele sind es?«, fragte Einhard.
Lucas hob die Schultern.
»Das ist schwer zu sagen«, flüsterte er. »Es gibt da nämlich ein Problem.«
»Welches?«
»Wir haben die Skelette vorsichtig angehoben, aber sie sind in Einzelknochen auseinandergefallen.«
Einhard seufzte.
»Wie konntet ihr nur so dumm sein! Damit macht ihr dem Medicus unnötige Arbeit. Wahrscheinlich wird es gar nicht mehr möglich sein, die richtigen Knochen einander zuzuordnen. Habt ihr denn nicht an die Auferstehung des Fleisches gedacht? Was habt ihr da nur angerichtet! Du hast völlig recht, Lucas, ihr hättet mir sofort Bescheid geben sollen.« Er nahm dem Sohn des Baumeisters den Knochen wieder ab. Seine nächsten Worte ließen den jungen Mann sehr blass werden: »Führe mich sofort zu eurem Beinhaus. Damit wir diesen Knochen zu den anderen legen können.«
kapitel 5
mauern und mörtel
Bewahre dein Geheimnis mit Eifer! Tue es niemandem kund!
Denn wer sein Geheimnis verrät, verliert es zur selbigen Stund.
Und wenn die eigene Brust dein Geheimnis nicht fassen kann.
Wie kann dessen Brust es fassen, dem du es kundgetan?
Aus 1001 Nacht (die 9. Nacht)
monate zuvor
W iewohl er den Baumeister heil an den Hof des Frankenkönigs gebracht hatte, war Isaak nicht der Ansicht, den Auftrag des Kalifen ordnungsgemäß erfüllt zu haben. Ehe er seine Rückreise nach Bagdad würde antreten können, um sich endlich wieder seiner eigentlichen Berufung, dem Fernhandel, zu widmen, mussten die Mörder von Haruns Männern gefunden und ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Nur mit dieser Nachricht würde er dem Kalifen wieder unter die Augen treten können.
Isaak hatte Iosefos entlockt, dass Harun ihn reichlich mit Golddenaren, Perlen und Smaragden ausgestattet hatte. Dieser geraubte Schatz konnte vielleicht auf die Spur der Mörder führen.
Golddenare des Abbasidenreiches waren schließlich die wichtigsten Münzen der Welt und im Frankenland normalerweise nicht in Umlauf. Sollte ein derartiges Goldstück irgendwo auftauchen, würde sich das in gewissen Kreisen herumsprechen. Nicht etwa in denen gemeiner Diebe, Hehler und Betrüger, sondern eher in solchen, die mit einem sehr reichen Haus Handel trieben. Nur in einem derartigen Umfeld konnte etwas von vergleichbarem Wert eingetauscht werden. Und da die kleine Reisegruppe in der Nähe von Aachen überfallen worden war, mutmaßte Isaak, dass Teile der Beute am Königshof angeboten werden würden.
Er blieb also weiterhin vor Ort, hielt Ohren und Augen offen und legte mehrmals in der Woche seinem alten Freund, dem königlichen Küchenmeister, neue Rätsel vor. Der war beim Osterfest zum Seneschall ernannt worden, womit ihm seitdem ein wesentlicher Teil der Hofverwaltung unterstand. Das machte eine enge Zusammenarbeit
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