Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
erwarten. Das geschieht ihnen dafür, dass sie den Tag der Abrechnung vergessen haben.
Sein Tag der Abrechnung schien sich jedenfalls endlich zu nähern. Isaak wusste jetzt, wie er vorgehen würde, und reichte dem Seneschall das Papier zurück.
»Ich gebe dir gar nichts dafür«, erklärte er.
»So wertlos?«
»Im Gegenteil. Dieses Schriftstück ist unbezahlbar. Ich mag mir nicht ausmalen, wie der König denjenigen strafen wird, in dessen Besitz es sich befindet.«
Der Seneschall erbleichte. »Nun sag schon, Isaak, wovon kündet es?«
»Von Golddenaren, Perlen und Smaragden, die der edle Herrscher des Abbasidenreiches, der hochherzige Kalif Harun al Raschid, seinem Freund, dem großen König Karl des Frankenlandes, als Geschenk mit großer Hochachtung zu Füßen legen will. Glaubst du nicht auch, dass König Karl nach dem Verbleib dieser Schätze fragen wird? Und nach dem des Mannes, der die Kostbarkeiten bei ihm hätte abliefern sollen?«
Misstrauisch verengten sich die Augen des Seneschalls. »Bist du selbst nicht erst kürzlich im Morgenland gewesen?«, fragte er.
»Ganz richtig. Das ist ein Schutzbrief, mein Freund. Mein Schutzbrief. Den mir der Kalif höchstselbst ausgehändigt hat, auf dass ich ihn König Karl überreiche. Aber wie du weißt, bin ich auf der Herreise überfallen und ausgeraubt worden. Mithilfe dieses Schriftstücks könnte ich wahrscheinlich die Räuber dingfest machen und dem König das Seine zukommen lassen.«
Hastig drückte der Seneschall Isaak das Papier in die Hand.
»Nimm es, nimm es«, sagte er eilig. »Du brauchst mir dafür nichts zu geben.«
Isaak zog einen Silberdenar aus seinem Geldbeutel und legte ihn auf den Tisch.
»Ich halte mein Wort«, sagte er. »Und nun tu uns beiden einen Gefallen: Schaffe die Frau herbei, von der dieses Schriftstück stammt. Kann sie uns zu den Räubern führen, wird es dir der König gewiss lohnen.«
wieder im oktober 795
»Führ mich augenblicklich zu diesem Beinhaus! Worauf wartest du noch?«, wandte sich Einhard jetzt ungeduldig an Lucas. Dessen Vater hatte es vorgezogen, neben der Mauer einen Handwerker in ein offensichtlich überaus wichtiges Gespräch zu ziehen. Odos Talent für große Reden war ausschließlich der Menge vorbehalten. Es erschöpfte sich im kleinen Kreis, vor allem, wenn sein Sohn ihn mit Unerwartetem bestürzte und ihn damit jeglicher Phantasie beraubte. Über eine solche verfügte Lucas dagegen im Übermaß. Sie würde ihn irgendwann ins Unglück stürzen, hatte der Vater dem Sohne schon öfter prophezeit. Man baue auf Bewährtem auf und füge den Erfahrungen vorangegangener Generationen behutsam ein paar wenige neue Steine hinzu. Die Mauern dessen, der sein Bauwerk hochmütig in den Himmel wachsen lasse, würden einstürzen und den Vermessenen unter sich begraben. Verweise auf den Turmbau zu Babel unterließ Odo; schließlich arbeiteten an ihrem Turm in Aachen Menschen unterschiedlichster Völker, ohne dass es, bisher jedenfalls, zu baubedrohlicher Sprachverwirrung gekommen wäre.
Aber Odo fürchtete um die Zukunft seines Sohnes, der in der Sache mit den menschlichen Überresten wieder einmal tollkühn vorgeprescht war. Er fürchtete sich vor dem Zorn des Königs, sollte diesem die Ameise Einhard zutragen, dass auch christliche Knochen das Fundament seiner Kirche befestigten.
Einhard hob einen Arm, umschrieb mit einem weiten Bogen den Kreis der sechzehn vier- und dreieckigen Umgangsjoche des Fundaments und verkündete: »Wir sollten diesen Christenknochen schnell dorthin bringen, bevor er wieder in eines jener Löcher gerät.«
»Nein«, mischte sich Iosefos ein und stellte sich Einhard in den Weg. »Dieser Knochen wird nirgendwohin gebracht, ehe ich auf meine Frage eine Antwort erhalten habe. Wann werden die Arbeiter entlohnt und wann erhalte ich mein Geld zurück?«
Mit schnellem Griff entriss er Einhard den Knochen und hielt ihn dem kleinen Schreiber wie eine Waffe entgegen.
»Geht!«, schrie er Ezra und Lucas an, die reglos neben ihm standen. »Kümmert euch endlich um den Mörtel! Und schafft den Mann her, der ihn zu früh dem Bad im Wasser entnommen hat! Er sollte ausgepeitscht werden!«
Dankbar für die Geistesgegenwart des Iosefos, eilten die Baumeisterkinder davon.
»Komm«, flüsterte Lucas Ezra zu, als sie außer Hör- und Sichtweite waren. »Ich zeige dir, woher wir Knochen zum Bestatten beschaffen können. Das willst du doch wissen, oder nicht?«
Ezra wiegte den Kopf, nicht sicher, ob sie
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