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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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wirklich wissen wollte, wo er Skelette auszugraben beabsichtigte.
    »Keine Sorge«, sagte Lucas. »Es sind uralte Knochen aus vorchristlicher Zeit; da ist überhaupt nichts Menschliches mehr dran. Und das Beste daran ist – nein, das sage ich dir jetzt nicht. Lass dich überraschen.«
    Aus seiner Stimme war Erleichterung herauszuhören, so glimpflich davongekommen zu sein. Und die Vorfreude, mit dem gleichaltrigen Knaben ohne störende Ältere allein durch seine Heimatstadt zu streifen, wo er früher mit den Kindern von Arbeitern und Handwerkern auf der Straße, im Wald oder in alten Ruinen gespielt hatte. Wie lange das alles schon zurücklag!
    Der Kontakt zu den einstigen Spielkameraden war verloren gegangen, als er zum Unterricht in die Hofschule geschickt wurde. Mit den neuen Mitschülern, zumeist Söhnen von Höflingen, verband ihn herzlich wenig. Die anderen vergnügten sich auf der Jagd, übten sich in Waffenkunst oder bereiteten sich im Skriptorium auf ein künftiges Mönchsdasein vor, während er seinem Vater in der Werkstatt und auf Baustellen zur Hand ging. Dermaßen mit dem ihm vorgezeichneten Weg beschäftigt, war Lucas nie auf den Gedanken gekommen, dass seinem Leben etwas fehlen könnte. In welch großer Einsamkeit er herangewachsen war, ging ihm erst auf, als er mit Ezra zusammenzuarbeiten begann.
    Nie hätte er früher zu hoffen gewagt, einem Gleichaltrigen zu begegnen, der sich für die korrekte Rundung eines Torbogens weitaus mehr begeistern konnte als für die eines Jagdbogens. Der eine Vision von Architektur hatte und nicht nur Altbewährtes nachbauen, sondern Neues, bisher Unerprobtes in die Welt hineinstellen wollte. Schon beim ersten Blick auf die wunderlich schönen Sandzeichnungen hatte er sich ihrem Urheber eng verbunden gefühlt, sein freudiges Erstaunen kaum zu verbergen vermocht, als sich herausstellte, dass hier kein alter erfahrener Baumeister am Werk gewesen war, sondern ein gleichaltriger Jüngling. Dem, wenn er Ezras Blick bei ihrer ersten Begegnung richtig deutete, sofort klar gewesen war, wer die Skizzen auf das Wachs übertragen hatte, und der beglückt darüber zu sein schien. Wir sind beide am selben Tag aus dem Schatten unserer Väter herausgetreten, dachte Lucas. So etwas bleibt unvergesslich und verbindet.
    Er spürte, dass Ezra auch ihn mochte und schätzte, verstand aber nicht, weshalb der Sohn des Iosefos jenseits von Zeichnungen seine Gesellschaft ablehnte. Sie hatten doch so viel gemeinsam, warum also hielt Ezra das Versprechen des ersten Blicks nicht ein? Er schien Lucas unter dem gemeinsamen Dach sogar auszuweichen!
    Zunächst hatte der Sohn des Odo angenommen, dass sich Ezra wegen seiner Stummheit schämte. Er beschloss also, es dem Gleichaltrigen leichter zu machen und ebenfalls nur noch in einer Art Zeichensprache mit ihm zu reden. Ezra hatte sich seine Grimassen und verzogenen Glieder kurz angesehen, still gelacht und dann auf das Wachstäfelchen gekritzelt: »Rede, mein Freund, das kannst du viel besser.«
    »Ist mir auch viel lieber«, hatte er geantwortet und sogleich einen Ausflug in die nähere Umgebung vorgeschlagen. Was Ezra, wie schon so oft zuvor, abgelehnt hatte. Aber jetzt gab es endlich einen Grund für einen gemeinsamen Gang durch die Stadt.
    Nachdem er die jungen Leute fortgesandt hatte, wandte sich Iosefos wieder Einhard zu. In seinen Augen war echte Verzweiflung zu lesen.
    »Entschuldigung, Schreiber, dass ich dich so hart angefahren habe«, sagte er. Seine Stimme klang jetzt zwar leise, dadurch aber nicht minder bedrohlich. »Wir haben einen Tag Arbeit verloren, weil der Mörtel zu steif zum Verarbeiten wurde. Kalkmörtel und Ziegelmehl müssen ununterbrochen gewässert werden. Mit dem nassen Ziegelzuschlag legen wir nämlich Feuchtigkeitsspeicher im Inneren des Mauerwerks an. Verstehst du, Schreiber, nur so kann der Mörtel langsam, aber sicher hart und fest genug werden, dass die Mauern auch noch in späteren Jahrtausenden die Kuppel werden tragen können. Dieses Bauwerk soll schließlich für die Ewigkeit gemacht werden.«
    Während seiner Ansprache hatte er den Unterschenkelknochen gesenkt. »Aber wenn die Menschen Hunger haben, vernachlässigen sie ihre Aufgaben. Wann also werden sie entlohnt?«
    »Die meisten leisten hier ihren Frondienst ab«, flüsterte Einhard, dem vor Gewalt graute. Wiewohl sich der lange hagere Iosefos inzwischen wieder etwas beruhigt zu haben schien, sah er immer noch furchterregend aus. Einhard bedachte, dass dieser

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