Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Nein, er durfte keinen tödlichen Überfall in Konstantinopel erfinden; das würde unbequeme Fragen nach dem Grund des großen Umweges aufwerfen. Schade, dachte Isaak, es wäre reizvoll, den Tod der beiden Leibwächter in das Gebiet des von Karl und Harun gleichermaßen verhassten Basileus, des Herrschers über das Oströmische Reich, zu verlagern. Bei dem es sich derzeit um eine Frau handelte, denn Kaiserin Irene hatte im Vorjahr ihren Sohn blenden lassen, um die Macht nicht länger mit ihm teilen zu müssen. Wenn in der ersten christlichen Familie des Landes eine solche Schandtat ungebüßt blieb, konnte dort gewiss kein Muslim seines Lebens sicher sein.
»Also wo sind sie?«, fragte Yahya ungeduldig.
Isaak senkte die Lider. »Sie sind nach muslimischen Ritus beerdigt worden«, flüsterte er, »nachdem sie schon auf der Hinreise einer Krankheit erlegen sind. Die Bedauernswerten haben fauliges Wasser zu sich genommen. Ach, hätten sie, wie wir anderen, doch nur Wein getrunken!«
aachen , zur gleichen zeit
Zu ungewöhnlich früher Stunde hörte Ezra Schritte auf der Treppe. Hastig entschuldigte sie sich bei Allah für den notwendigen Abbruch des Morgengebets, versprach, es nachzuholen, und stürzte in die Kammer, in der früher ihr Vater und Dunja geschlafen hatten. Sie musste Lucas wecken, mit dem sie sich dort seit nunmehr zehn Monden das Bett teilte. Odo hatte ihr nach den tragischen Ereignissen des vergangenen Novembers ausdrücklich verboten, weiterhin allein in der Werkstatt zu nächtigen.
»Einsamkeit kann fürchterliche Folgen zeitigen«, hatte er erklärt und dabei so vielsagend auf einen Zirkel gestarrt, als fürchte er, der Architectulus könne sich die Spitze ins Herz rammen, ließe man ihn unbeaufsichtigt. »Du räumst noch heute deine Schlafhöhle, Ezra.« Er deutete auf die kleine Kammer, deren Tür offen stand. »Von nun an teilst du dort mit meinem Sohn das Bett.«
Er wartete darauf, dass Ezra diesem Befehl mit heftigen Bewegungen widersprechen würde. Doch zu seinem Erstaunen zeigte der Architectulus überhaupt keine Regung. Er blieb mit gesenktem Haupt vor ihm stehen, als hätte er nichts von dem verstanden, was von ihm verlangt wurde.
»Hast du mich gehört?«, fuhr ihn Odo an. Diesmal würde ihn die Sturheit des Knaben nicht davon abhalten, sich durchzusetzen. Dem Architectulus durfte keinesfalls etwas zustoßen. Er stand unter dem besonderen Schutz des Königs. Odo zitterte jetzt schon bei dem Gedanken, Karl nach seiner Rückkehr über den Tod des Iosefos und das Verschwinden von dessen Leiche und Ehefrau Rechenschaft ablegen zu müssen. Würde ihm der König glauben, dass er versucht hatte, den Sturz vom Gerüst aufzuhalten, oder könnte er dem noch stets nicht gänzlich verstummten bösen Gemunkel Gehör schenken? Sich aus zersplitterten Gerüchtefetzen ein düsteres Mosaik zusammensetzen und daraufhin das Gottesurteil auf ihn, Odo, übertragen? Dann war er verloren, denn ihm fehlte jegliche Kenntnis, eine solch hohe und weite Kuppel aus Stein zu wölben. Odo musste sich große Mühe geben, Iosefos nicht zu verfluchen. Dieser hatte jegliche Auskunft zu einem geeigneten Lehrgerüst mit der gleichen Halsstarrigkeit abgelehnt wie bisher sein Sohn die Aufforderung, mit Lucas in einem Bett zu schlafen.
»Hast du mich gehört?«, wiederholte Odo mit sehr vernehmlicher Stimme.
»Er hat dich gehört«, antwortete Lucas leise, angelegentlich die geschlossenen hölzernen Fensterläden musternd, »und er wird sich deinem Wunsch gewiss nicht widersetzen.«
Das Lügen geht weiter, dachte Ezra, und jetzt habe ich auch Lucas mit hineingezogen. Er belügt seinen Vater durch das Aussprechen der Wahrheit. Kein Geschenk könnte mir mehr Erfüllung bringen als das Befolgen von Odos Befehl. Kein Gedanke ist verführerischer als der, meinem Geliebten auf dem gemeinsamen Lager süße Worte zuzuflüstern, in seinen Armen einzuschlafen und wieder darin zu erwachen. Mein Vater und Dunja haben in dieser Kammer als Ehepaar zusammengelebt, obwohl sie keines waren. Gott hat Lucas und mich zusammengeführt, aber vor der Welt sind wir Baumeistersöhne, die vernünftigerweise in einem Bett schlafen sollten. Lucas wird bald merken, wie viel Kraft die Verstellung kostet, wie vielen Fallstricken er ausweichen muss, um sich und mich nicht zu verraten. Auch er wird einen Preis dafür zahlen, dass ich nicht sein darf, wer ich bin.
Am Morgen nach jener Nacht auf der Baustelle hatten sie darüber gesprochen, wie es
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