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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Bart, den Stock.
    Maione runzelte die Stirn:
    – Was glauben Sie, wofür steht der heilige Josef?
    Der Brigadiere dachte dabei an die Arbeit, die Tischlerei, die Handwerker. Aber der Mann antwortete:
    – Er steht für die Vaterrolle, Brigadiere. Für all die Liebe und all das Leid, die ein Vater in sich trägt. Es heißt ja immer: die Mutter, die Mutter. Aber wir, die wir von morgens bis abends wortlos schuften – für wen machen wir das denn, wenn nicht für die Kinder? An die Väter denkt man aber nie. Dafür steht der heilige Josef, für einen Vater im Abseits, der still und unbeachtet sein ganzes Leben lang für das Wohl seiner Kinder arbeitet.
    Maione hörte ihm überrascht zu. Dann sagte er:
    – Für die Kinder tun wir alles. Sie zählen am meisten im Leben, nicht?
    – Ja, Brigadiere. Als ich gestern Abend plötzlich die beiden Messer vor mir sah, habe ich genau daran gedacht: dass wir nicht mehr verlangen, als dass man uns in Frieden arbeiten lässt, zum Wohle der Kinder.
    Den Polizisten überkam auf einmal eine ungeheure Beklemmung. Das Wohl der Kinder, richtig. Aber wessen Kinder?
    – Danke, machen Sie's gut. Und vergessen Sie nicht: Schließen Sie den Laden abends rechtzeitig. Die Diebe profitieren von verlassenen Straßen.

XLVIII
    Ricciardi beschloss, zu Hause vorbeizugehen, anstatt bis zum Nachmittag im Präsidium zu bleiben oder im Gambrinus wie üblich rasch eine Sfogliatella zu essen.
    Das kam eher selten vor: Normalerweise verzichtete er nicht gern auf die Zeit, die er brauchte, um bis nach Santa Teresa und zurück zu laufen. Es dauerte insgesamt über eine Stunde, und die konnte er gut für seine Ermittlungen gebrauchen und für die langweiligen Verwaltungsarbeiten, die damit zusammenhingen.
    Diesmal wollte er allerding nach Hause. Die vielen Leute, die trotz der Kälte unterwegs waren, würden das Café überfluten und er würde lange auf einen Platz warten müssen; die Pause wäre also mehr Anstrengung als Erholung. Doch der Hauptgrund war ein anderer.
    Der Grund war Rosa. Vor einiger Zeit schon war ihm aufgefallen, dass ihr Gejammer über seine ungeordneten Verhältnisse, die wenig erfreuliche Hintergrundmusik seiner Abendstunden, nachgelassen, ja sogar fast ganz aufgehört hatte. Seine Kinderfrau war zerstreut und nervös, als bereite ihr etwas Kummer.
    Zunächst war es nur so ein Gefühl, doch dann war er sich sicher. Er wollte sie fragen, wie sie sich fühlte, ob es ihr nicht gut ging – obwohl er wusste, dass sie daraufhin zu einer langen Tirade ausholen würde, in der es um Einsamkeit, die Not
wendigkeit, eine Familie zu gründen, kurzum um all jene Themen ging, die Rosa besonders am Herzen lagen.
    Während er sich einen Weg durch die Menschenmenge in der Via Toledo bahnte, überlegte er, dass er sehr wohl eine Familie hatte. Seine Familie war genau jene sonderbare, schlichte, energische, zerbrechliche und doch unglaublich starke alte Frau, die ihn seit seiner Geburt begleitet hatte, immer bei ihm war und im Hintergrund gut über ihn wachte, besser als sein früh verstorbener Vater oder seine ständig kranke Mutter, besser als irgendjemand sonst. Sie war ihm teurer, als er zu zeigen imstande wäre, und wesentlich teurer, als er freiwillig zugegeben hätte.
    Entlang der Straße tauchten zwischen den Lebenden auch die Toten hier und da vor ihm auf. Ein von einem Gerüst gestürzter junger Mann mit Genickbruch rief nach seiner Mutter; das Opfer einer Schlägerei wetterte mit gebrochenem Unterkiefer gegen einen gewissen Michele; eine mitten auf der Straße von einem Auto überfahrene Frau sagte wie ein Gebet die Liste der Dinge auf, die sie noch einkaufen wollte, während die Schlagader ihres glatt abgetrennten Beins Blut ins Leere pumpte.
    Hier bin ich, dachte Ricciardi. Einer von vielen, inmitten der Menschenmenge. Weder dick noch dünn, nicht zu groß und nicht zu klein; die unruhigen Hände in den Manteltaschen, eine widerspenstige Haarsträhne in der Stirn. Einer von vielen, inmitten der Menschenmenge.
    Der einzige Unterschied, überlegte er bitter, ist die Menge selbst. Meine besteht aus Lebenden und Toten, aus Gleichgültigkeit und Schmerz, Schreien und Schweigen. Ich bin der einzige Bürger einer Stadt aus Toten, die lebendig zu sein glauben, und Lebenden, die sich für tot halten.
    Zu Hause angekommen, öffnete er die Tür und hörte, wie jemand im Wohnzimmer weinte.

    Die Villa Nazionale war voller Leute, obwohl es kalt war.
    Sie war so voll, weil auch sie ein Schlachtfeld des

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