Die Gabe des Commissario Ricciardi
über diesen Garofalo erfahren.
Ricciardi, dessen Haare vom Wind verweht wurden, antwortete nachdenklich:
– Auch über uns selbst, wie's scheint.
Maione stimmte ihm zu:
– Und manch einer behauptet immer noch, es gäbe keine Geheimpolizei. Erschreckend.
– Eben weil es sie gibt, konnte Lomunno so leicht zugrunde gerichtet werden. Die Miliz ist die Partei, die können sich nicht mal den Anflug eines Skandals leisten. Natürlich hat Garofalo hoch gewettet; hätten sie seine Anschuldigungen nicht überprüft, wäre ihm das sehr schlecht bekommen.
Ricciardi lief inzwischen zügig in Richtung Polizeipräsidium.
– Also musste er sich sicher sein. Seinem Kollegen hat er jedenfalls nicht bloß die Karriere, sondern auch das Leben zerstört. Denk nur an die Frau, die sich in den Tod stürzt aus Verzweiflung darüber, alles verloren zu haben: die Wohnung, ihren Mann, ihre Würde.
Maione stieß hinter Ricciardi schnaufend Dampf aus, wie eine kleine Lokomotive.
– Sie haben recht, Commissario, man kann jemandem das Leben stehlen, seine Träume und Hoffnungen. Das ist überhaupt das größte Verbrechen: der Raub der Hoffnung.
Ricciardi warf dem Arbeiter, der unter der letzten Last des Tages zerquetscht worden war, einen schiefen Blick zu. Er war allein auf dem Kai zurückgeblieben, von den Lebenden verlassen, die nach Hause gegangen waren.
– Die Hoffnung mag zwar zuletzt sterben, doch irgendwann
stirbt auch sie. Immerhin kennen wir am Ende des ersten Ermittlungstages nicht nur den Namen von Antonio Lomunno, der erst bei der Miliz und dann im Knast war.
– Ach nein, Commissario? Was wissen wir denn sonst noch?
Ricciardi starrte gedankenversunken nach vorne, der Wind blies ihm in den Rücken.
– Wir haben den heiligen Josef und den heiligen Sebastian.
– Auch den heiligen Gennaro, falls noch Bedarf ist … Aber inwiefern?
– Die zerbrochene Josefsfigur: Wenn das Absicht war, hatte es einen Grund. Wir müssen dahinterkommen, was dieser Grund gewesen sein könnte. Auf den heiligen Sebastian bin ich selbst gekommen und will sehen, ob ich mit meiner Idee richtig liege. Wir sollten allerdings ein paar Leute fragen, die sich damit auskennen, denn von Heiligen haben weder du noch ich viel Ahnung.
Maione dachte eine Weile nach, denn sagte er:
– Spontan fällt mir nur ein einziger Experte auf diesem Gebiet ein: Don Pierino von der Pfarrei San Ferdinando.
– An ihn hab' ich auch gedacht. Vielleicht geh' ich morgen kurz zu ihm; er kann mir allerdings nur bei Josef weiterhelfen. Für den heiligen Sebastian brauche ich noch einen anderen Experten: Doktor Modo.
Maione brach in Gelächter aus.
– Was, den? Von Heiligen weiß der ja noch weniger als wir, außer beim Fluchen natürlich, da scheint er mir so einige zu kennen, wenn ich mich nicht irre. Aber ich treffe ihn natürlich gern.
– Nein, – erwiderte Ricciardi. Sie waren inzwischen im Hof des Präsidiums angelangt und endlich nicht mehr dem schnei
denden Nordwind ausgesetzt. – Ich geh' hin, sowohl zu Don Pierino als auch zu Modo. Du kannst mir allerdings den Gefallen tun und morgen deinen Informanten besuchen, unseren guten alten Bambinella; er soll mal herumfragen, was die Leute über Lomunno und Garofalo wissen. Vielleicht war diese ganze Ehrbarkeit nur ein schöner Schein.
Maione dachte kurz nach. Dann sagte er:
– Zu Befehl, Commissario. Bambinella fange ich am besten frühmorgens oder spätabends ab, sonst ist er meistens unterwegs. Wenn Sie wollen, geh' ich jetzt gleich zu ihm.
– Nein, es ist schon spät, außerdem war's ein anstrengender Tag. Geh doch kurz hoch und unterschreib die Protokolle und dann geh nach Hause, es ist bald Weihnachten.
– Richtig, die Krippe ist auch noch nicht fertig. Wie auch? Bei uns ist's Tradition, dass ich sie mache, aber ich hab' nie Zeit. Ich weiß noch, dass Luca, als er klein war, mir immer unbedingt helfen wollte. Manchmal kommt's mir vor, als ob er noch daneben stehen würde, wissen Sie. Na ja, reden wir lieber nicht davon, es ist zu traurig. Danke, Commissario, wir sehen uns also morgen.
XVIII
Weihnachten ist ein Gefühl.
Es kann ein ganzes Jahr lang andauern, in froher Erwartung eines Geschenks, eines Kusses, eines im Kerzenschein auf der Zunge zergehenden Gebäcks.
Es schmeckt nach Zimt und Mandeln, nach Zuckerperlen und Hühnerbrühe.
Weihnachten ist ein Gefühl.
Es schwebt über Lichterketten mit Hunderten von Lämp
chen an schwarzen Stromkabeln, die aussehen wie vom Himmel gefallene
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