Die Gabe des Commissario Ricciardi
er tief, dann sagte er:
– Ich brauche noch etwas anderes. Die Sache ist streng vertraulich, Bambinella, es darf niemand davon erfahren, wirklich gar keiner. Du musst jemanden für mich finden: einen gewissen Biagio Candela. Er dürfte ziemlich jung sein. Leider kann ich dir nicht sagen, was er macht oder wo er wohnt, nur dass sein Bruder – er hieß … er heißt Mario, Mario Candela – im Gefängnis ist, in Poggioreale.
Bambinella hörte aufmerksam zu. Er sah dem Brigadiere dabei direkt ins Gesicht und verzog selbst keine Miene. Dann nickte er und sagte mit tiefer Stimme, ganz ohne die übliche Geziertheit:
– Ich weiß, wer Mario Candela ist, Brigadiere. Er ist letzte
Woche im Gefängnis gestorben, nach einer Rauferei. Und ich weiß auch, was er getan hat, warum er im Gefängnis war.
Er machte eine Pause, in der er sich über die Haarstoppeln auf seinem Handrücken strich.
– Ich rasiere sie dauernd ab, aber sie wachsen immer wieder nach. So ist die Natur eben. Sie lässt sich nicht verstecken. Man kämpft dagegen an, aber es ist nichts zu machen. Sind Sie sicher, dass Sie diesen Biagio Candela ausfindig machen wollen? Haben Sie es sich gut überlegt?
Maione fragte sich, was und wie viel Bambinella über die Ermordung seines Sohnes wusste. Er hatte nie darüber nachgedacht.
– Ja, Bambinella. Ich will wissen, wo er steckt. Wenn du mir nicht helfen willst, danke trotzdem, ich schaff's auch allein, weißt du.
Bambinella betrachtete das Fenster: Eine Taube saß zusammengekauert auf der Fensterbank, den Kopf unterm Flügel, und versuchte, sich vor dem kalten Dezemberwind zu schützen.
– Bis zum Abend wird sie tot sein, das arme Tier. Und keiner kann was dran ändern.
Als er sich wieder Maione zuwandte, lächelte er.
– Wir sind Freunde, Brigadiere. Und Freunde helfen sich – unbegrenzt, ohne nachzufragen. Keine Sorge, ich werde Sie wissen lassen, wo Sie diesen Biagio Candela finden. Kommen Sie heute Abend wieder, dann reden wir darüber. Über beides.
Maione trank den miserablen Malzkaffe in einem Zug, nickte kurz zum Abschied und ging dem Sonntag mit gesenktem Kopf entgegen.
XXIII
Ricciardi hatte im Krankenhaus anrufen lassen und Doktor Modo für ein Uhr zum Mittagessen ins Gambrinus eingeladen. Dort angelangt, setzte er sich an denselben Tisch wie immer mit Blick auf die Via Chiaia und bestellte einen Kaffee, um sich die Wartezeit zu vertreiben.
Das Gambrinus war der einzige Ort, an dem Ricciardi sich gerne aufhielt. Den ganzen Tag über herrschte dort ein reges Kommen und Gehen von Leuten unterschiedlichsten Schlags – jeder Kundentyp hatte seine eigene Uhrzeit. Der Kommissar mochte die Stuckelemente und Jugendstilfresken, das gedämpfte Licht, die unaufdringlichen Kellner. Den abgestandenen Duft der alten Stadt.
Es gab bequeme kleine Sessel aus rotem Samt, eine ausgezeichnete Musik, die vom Flügel in der Mitte des Saals kam, und exzellente Sfogliatelle. Grund genug für Ricciardi, sich in dem historischen Café wie zu Hause zu fühlen.
Er kam schon seit Jahren her und nicht einer der Kellner, die daran gewöhnt waren, ihn etwas abseits an dem kleinen Tisch in der Ecke sitzen zu sehen, hatte sich je einen besonderen Gruß oder sonstige Vertraulichkeiten erlaubt. Ricciardi schätzte Diskretion über alles, doch sie war überall zur Seltenheit geworden und in Neapel fast nie zu finden.
Durch die große Fensterscheibe sah er einen wahren Strom von Menschen auf und ab gehen. Die meisten waren beladen mit Päckchen und Paketen, trugen Handschuhe und Hüte und waren vor Kälte ganz rot im Gesicht. Ihr Lachen und ihre Unterhaltungen drangen durch das dicke Glas nicht bis zu ihm. Das Ganze wirkte wie ein Stummfilm in Farbe, auch wenn Letztere in der blassen Wintersonne recht fahl wirkte.
An der Ecke zur Via Toledo saß am Boden eine eingemummelte Alte, die mit ausgestreckter Hand um ein Almosen bat. Hin und wieder ließ ein Passant eine Münze hineinfallen und die Frau ließ sie flink unter den verschlissenen Decken verschwinden.
Fast direkt daneben stand ein Drehorgel spielender Junge mit halbem Lächeln. Halb deswegen, weil der Rest seines Gesichts, ebenso wie das Bein und der Arm der entsprechenden Körperseite, nur ein unförmiger Haufen blutigen Fleisches war. Ricciardi, der das Bild des Kindes seit einer Woche täglich sah, erinnerte sich an den Unfall: Ein Fahrzeug war spätabends um die Kurve gebraust; vielleicht wollte der kleine Bettler einen letzten freigebigen Passanten abfangen
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