Die Gabe des Commissario Ricciardi
ab.
– Was sollten wir schon tun? Wir sind zurück nach Hause gegangen und haben uns in unser Schicksal gefügt.
Maione wartete kurz und fragte dann:
– Sie sind also nicht wieder zu den Garofalos gegangen?
Es folgte eine Stille, die unendlich lange schien. Dann sagte die Frau:
– Nein, Brigadiere. Wir sind nicht mehr hingegangen. Als aber die Nachricht von ihrem Tod kam, ich will ehrlich sein, war das für uns wie eine Befreiung. Es waren keine rechtschaf
fenen Leute. Sie hatten kein Mitleid mit jemandem wie uns. Eine Mutter und ein Vater sollten Mitleid kennen. Zumindest mit den Kindern. Was können die Kinder dafür?
Vom Bettchen kam ein schauriges, leises Pfeifen. Die Eltern sahen sich wieder kurz an.
Ricciardi stand auf:
– Wir gehen. Komm, Maione.
An der Tür blieb er stehen und drehte sich noch einmal zu der Frau um:
– Ein Freund von mir wird nach Ihrem Jungen sehen kommen, Signora. Er ist Arzt, ein Mann mit weißen Haaren und einem Hund. Er ist der beste von allen, wenn man noch etwas tun kann, wird er's tun. Wegen der Medikamente machen Sie sich keine Sorgen, er wird sich darum kümmern. Sie haben recht: Die Kinder können nichts dafür.
XXXVIII
An jenem Morgen ließ der Wind schlagartig nach – einfach so, als hätte jemand an einem Schalter gedreht und das tagelange, ständige Brausen an der Küste mit einem Mal abgestellt.
Zuerst merkten es die Frühaufsteher: Verwirrt sahen sie nach oben und hielten die Nasen schnuppernd in die Luft. Kapaune und Truthähne, die auf den Balkonen nach langer häuslicher Aufzucht ahnungslos ihre letzten Lebensstunden verbrachten, ließen sich mit frischer Inbrunst vernehmen, und die Hühner, die nun nicht mehr von verrückt gewordenen Zeitungsseiten verfolgt wurden, eroberten erneut die Gassen.
Die Straßenhändler mit festem Standort änderten umgehend
ihre Taktik: Sie kehrten auf die begehrteren Verkaufsplätze zurück, die von den starken Böen an den Tagen zuvor wie leergefegt waren. Die Schuhputzer bezogen wieder Stellung vor der Einkaufspassage, um Ärzte und Rechtsanwälte abzupassen, die die Straße just an dieser Stelle überquerten; die Zeitungsverkäufer riefen ihre Ware wie zuvor auf den Plätzen aus, wo die vornehmen Herren sich nun nicht mehr mit einer Hand den Hut festhalten mussten.
Sogar der Winter selbst schien vom plötzlichen Ableben des Nordwinds überrascht zu sein: Ein paar Stunden lang blieben die Temperaturen mild, als sähe das Klima sich unschlüssig um und erinnere sich nicht an Datum oder Jahreszeit.
Das Heer der fliegenden Händler, die unablässig in Bewegung waren, um ihren Aktionsradius zu vergrößern, stürmte unverzüglich die Flaniermeilen. Die Rufe der Verkäufer, mit denen sie ihre Waren und Dienstleistungen anboten, um den bestehenden Bedarf zu decken oder auch neue Bedürfnisse zu wecken, folgten schon bald in kurzen Abständen aufeinander: Der Kuttelbräter stellte Kutteln und Schweinsfüße aus, die mit einem Spritzer Zitrone und Pfeffer zu essen waren; mit ihm im Wettstreit befanden sich die brodelnden Wassertöpfe der Maccaroniverkäufer und die Pfannen mit kochend heißem Öl, in denen Pizzen, Panzarotti und Kartoffelkroketten frittiert wurden, bei deren Verzehr man sich regelmäßig den Mund verbrannte. Die Wasserverkäuferinnen trugen wieder ihre Krüge auf dem Kopf umher und boten die eisenhaltige Erfrischung aus den Chiatamone-Quellen feil; die Kioske hielten mit Zitronenlimonade dagegen.
Esst und trinkt, ohne euch zu Tisch zu setzen, sogar am frühen Morgen – das war die Botschaft an den letzten zwei Ta
gen vor Weihnachten. Weiße Rauchschwaden erhoben sich wie wandelnde Ladenschilder über den Holzkohlegrillen mit gerösteten Kastanien und Artischocken. Es gab Walnüsse, Haselnüsse, Lupinensamen, getrocknete Kürbiskerne.
Benommen von der Reichhaltigkeit des Angebots, schloss auch das Heer der Passanten seine Reihen: die potenziellen Käufer gegen die potenziellen Verkäufer. Binnen kurzer Zeit herrschte auf Straßen und Plätzen ein einziges heilloses Durcheinander, wurden Geschäfte begonnen und nie abgeschlossen, konnte man Rufe und gespielte Streitgespräche vernehmen, kam es zu endlosen Verhandlungen und unsicheren Abkommen.
Das Ganze dauerte ein paar Stunden. Dann sank die Temperatur allmählich wieder.
Schwester Veronica überlegte, dass, genau genommen, fast alles mit den Kindern zu tun hatte.
Alles wurde für sie getan, alles drehte sich um sie, und das war richtig so. Waren die
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