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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Kinder denn nicht die Zukunft? Setzte man nicht auf sie alle Hoffnung? Was hätte sie also Besseres tun können, als Kinder zu unterrichten?
    Die Nonne vermutete, aufgrund ihres kleinen Wuchses und ihrer hellen Stimme für diese Aufgabe ausgewählt worden zu sein: Beides machte aus ihr eine Art Fabelgestalt, eine Fee mit Zauberkräften. Es war Sinn und Zweck ihres Lebens, sich um die Kinder zu kümmern.
    Selbst die Schmerzensmutter, welcher der Orden geweiht war, war ja vor allem eines, Mutter nämlich, und hatte sich um ein Kind zu kümmern: einen Sohn, der ihr, ohne ihre Schuld, ewigen Schmerz zugefügt hatte und noch immer zufügte.
    Während Schwester Veronica durch die Bankreihen schritt
und den Schülern dabei zusah, wie sie ihren Eltern den traditionellen Weihnachtsbrief schrieben, kam sie zu dem Schluss, dass es keine wichtigere, verantwortungsvollere Funktion gab, als sich den Kindern zu widmen, und dass die Kinder auch denen gehörten, die sie liebten, und nicht bloß denen, die sie zur Welt gebracht hatten. Sonst hätte Marias von Degen durchbohrtes Herz keinen Sinn gehabt, nicht?
    Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, dass zwei Buben sich etwas zuflüsterten. Sie warnte sie vernehmlich:
    – Vorsicht, ich sehe euch!
    Augenblicklich äffte jemand die Nonne von irgendwo auf der anderen Seite des Klassenzimmers nach, wobei ihre Stimme und der Tonfall ohne Worte perfekt wiedergegeben wurden:
    – Pèpe, pepèpepe!
    Die ganze Klasse brach in Gelächter aus, das auf den finsteren Blick der Schwester hin sofort verstummte. Insgeheim musste die Frau sich jedoch eingestehen, dass die Nachahmung sehr gelungen war, und sie unterdrückte ein Lachen. Was für reizende kleine Schlingel!
    Sie näherte sich der letzten Bank, in der ihre Nichte Benedetta saß. Das Mädchen war konzentriert über sein Blatt gebeugt und schrieb einer Mutter, die es nie wiedersehen sollte.
    Bei der Erinnerung an ihre arme Schwester spürte Schwester Veronica einen Stich im Herzen. Aber das Kind, dachte sie, hatte mehr Glück als viele andere: Zumindest hatte Benedetta eine Tante, die sich um sie kümmern konnte.
    Das Wichtigste war nun, Weihnachten zu überstehen: Die Feiertage waren immer am schwierigsten, wenn man erst kurz zuvor einen lieben Menschen verloren hatte. Doch wenn die
Madonna es geschafft hatte, mit all den Degen in der Brust, würden auch sie und Benedetta darüber hinwegkommen.
    Im Vorbeigehen streichelte sie wohlwollend einem Jungen über den Kopf. Sobald sie vorüber war, wischte der Kleine sich mit einem Taschentuch demonstrativ die Stelle trocken, an der die Nonne ihn berührt hatte. Die Klasse brach erneut in Gelächter aus.

    Ricciardi und Maione fanden sich zu ihrem morgendlichen Treffen im Büro des Kommissars ein. Beide waren schlecht gelaunt, müde und unkonzentriert.
    Maione hatte die üblichen zwei Tassen Malzkaffee mitgebracht.
    – Liebe Güte, heute Morgen schmeckt die Brühe noch schlechter als sonst.
    Ricciardi antwortete:
    – Na ja, zumindest ist's was Warmes. Also sag, was hältst du von den Fischern?
    – Ich hab' nicht den Eindruck, dass wir mit unseren Ermittlungen weitergekommen sind. Sowohl Lomunno als auch Boccia könnten es gewesen sein. Bei den Boccias käme ja auch noch die Frau als Mittäterin in Frage, das würde zu den Autopsieergebnissen passen und zu den beiden Händen, einer starken und einer schwachen, die laut Modo bei Garofalos Ermordung am Werk waren.
    Ricciardi ergänzte den Gedankengang:
    – Und der scheint ja wirklich ein abscheulicher Kerl gewesen zu sein. Was bedeutet, dass auch jemand anders ihn ermordet haben könnte, erpresste Fischer zum Beispiel, von denen wir nichts wissen, oder vielleicht irgendein Kollege, der kurz davor war, genau wie Lomunno zu enden.
    Maione nickte. Angewidert stellte er die leere Tasse zurück auf den Schreibtisch.
    – Das Zeug kann man wirklich kaum trinken. Auf jeden Fall sollten wir sowohl Boccias als auch Lomunnos Aussage überprüfen. Der Fischer war auf See, als der Mord passiert ist; er hat gesagt, dass sie um vier Uhr morgens rausfahren und frühestens zwölf Stunden später wieder zurückkommen. Also müssen wir seine drei Kollegen befragen. Und Lomunno hat bei den Firmen im Hafen die Runde gemacht. Vielleicht hat ihn jemand gesehen und erinnert sich an ihn.
    Ricciardi starrte vor sich ins Leere.
    – Davon erwarte ich mir nicht allzu viel. Was sollen Boccias Kameraden schon sagen? Dass er nicht bei ihnen war? Und selbst wenn jemand

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