Die Gärten des Mondes
die scharfen, knochigen Umrisse seines Körpers weich, fast kindlich. Für einen Mann, der schon hundert Jahre alt war, hatte er sich gut gehalten. »Locke hat irgendwelche Aufträge für Dujek ausgeführt«, sagte sie. »Wir werden wahrscheinlich nur auf den neuesten Stand gebracht.«
Calot knurrte vor sich hin, während er seine Stiefel anzog. »Das hast du davon, dass du das Kommando über den Kader übernommen hast, Seel. Wie auch immer, es war leichter, Nedurian zu grüßen, das kann ich dir sagen. Wenn ich dich anschaue, möchte ich am liebsten -«
»Bleib bei der Sache, Calot«, unterbrach sie ihn. Sie hatte es humorvoll gemeint, doch es kam in einem Ton heraus, der ihn dazu veranlasste, ihr einen scharfen Blick zuzuwerfen.
»Ist irgendwas?«, fragte er ruhig. Das alte Stirnrunzeln fand den angestammten Platz auf seiner hohen Stirn.
Ich dachte, das hätte ich ihm abgewöhnt. Flickenseel seufzte. »Kann ich nicht sagen. Aber Locke hat mit uns beiden Kontakt aufgenommen. Wenn er nur seinen Bericht abgeben wollte, würdest du immer noch im Bett liegen und schnarchen.«
In zunehmend angespanntem Schweigen zogen sie sich weiter an. Nicht einmal eine Stunde später würde Calot in einer Woge aus blauem Feuer verbrennen, und nur die Raben würden Flickenseels verzweifelten Schreien antworten. Doch im Augenblick bereiteten sie sich auf eine ungeplante Besprechung im Kommandozelt von Hohefaust Dujek Einarm vor.
Auf dem schlammigen Weg hinter Calots Zelt drängelten sich die Soldaten der letzten Nachtwache um Kohlenpfannen, in denen Pferdemist verbrannt wurde, und hielten ihre Hände in die aufsteigende Wärme. In den Gängen zwischen den Zelten war kaum jemand zu sehen; dazu war es noch zu früh. Reihen um Reihen grauer Zelte zogen sich die Hügel hinauf, von denen man einen Blick auf die Ebene hatte, die Fahl umgab. Regimentsstandarten wallten träge in einer schwachen Brise; der Wind hatte seit gestern Abend gedreht und ließ Flickenseel den Gestank der Latrinengräben in die Nase steigen. Am heller werdenden Himmel verblasste die letzte Hand voll Sterne zur Bedeutungslosigkeit. Die Welt wirkte beinahe friedlich.
Den Umhang gegen die morgendliche Kühle eng um sich geschlungen, blieb Flickenseel einen Augenblick vor dem Zelt stehen; sie drehte sich um und betrachtete jenen enormen Berg, der eine Viertelmeile über Fahl in der Luft schwebte. Sie musterte die zerklüftete Oberfläche von Mondbrut - so lautete der Name des Berges, seit sie sich erinnern konnte. Die fliegende Basaltfestung mochte so zerfressen aussehen wie ein schwarzer Zahn - doch sie war das Heim des mächtigsten Feindes, dem das Imperium von Malaz jemals gegenübergestanden hatte. Und da Mondbrut hoch über der Erde schwebte, war der Festung auch mit einer Belagerung nicht beizukommen. Noch nicht einmal die untoten T'lan Imass, über die Laseen gebot und die leicht wie Staub auf den Winden reisten, waren in der Lage -oder willens -, die magische Verteidigung der Festung zu durchbrechen.
Die Magier von Fahl hatten einen mächtigen Verbündeten gefunden. Flickenseel erinnerte sich daran, dass das Imperium schon früher einmal, noch zu Zeiten des Imperators, mit dem geheimnisvollen Herrn von Mondbrut aneinander geraten war. Es hatte nicht besonders gut für das Imperium ausgesehen, doch dann hatte sich Mondbrut plötzlich zurückgezogen. Warum? Das wusste niemand von denen, die heute noch lebten; es war nur eines von tausend Geheimnissen, die der Imperator mit in sein nasses Grab genommen hatte.
Das Wiederauftauchen der fliegenden Festung hier in Genabackis war eine Überraschung gewesen. Und diesmal hatte es keine Begnadigung in letzter Minute gegeben. Ein halbes Dutzend Legionen der zauberkundigen Tiste Andii waren von Mondbrut herabgestiegen und hatten sich unter dem Kommando eines Kriegsherrn namens Caladan Bruth mit den Söldnern der Karmesin-Garde vereinigt. Gemeinsam war es den beiden Streitkräften gelungen, die Fünfte Armee des Imperiums zurückzudrängen, die vom Nordrand der Rhivi-Steppe aus in Richtung Osten vorgedrungen war. Die letzten vier Jahre hatte die arg mitgenommene Fünfte im Schwarzhundwald festgesessen und war gezwungen gewesen, sich gegen Bruth und die Karmesin-Garde zu behaupten. Eine Aufgabe, die schnell zu einem Todesurteil geworden war.
Aber Caladan Bruth und die Tiste Andii waren ganz eindeutig nicht die einzigen Bewohner von Mondbrut. Jemand, der noch niemals gesehen worden war, führte das Kommando über die
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