Die galante Entführung
Schulter und meinte eine Sekunde, sie müßte den Diener mißverstanden haben. Sie hatte jedoch richtig gehört: Auf der Schwelle stand Mr. Miles Calverleigh, ebenso sorglos gekleidet wie am Vortag bei seiner Ankunft im York House, und völlig ungezwungen. Als er sich im Zimmer umsah, blieben seine Augen einen Augenblick auf ihrem Gesicht ruhen. Sie hatte den Eindruck, daß sie sich in der Spur eines Lächelns verengten, aber ein anderes Zeichen des Erkennens ließ er nicht merken. Mrs. Grayshott und Oliver waren beide aufgesprungen, Oliver rief freudig »Sir!« aus, und Mrs. Grayshott ging ihm in der Geste einer impulsiven Begrüßung mit ausgestreckten Händen entgegen. »Mr. Calverleigh, wie nett von Ihnen!« rief sie aus. »Sie gönnen mir die Gelegenheit, die Unterlassung von gestern gutzumachen!«
»Aber nein, wirklich?« sagte er. »Welche Unterlassung?« Sie lächelte. »Sie wissen zu gut, daß ich viel zu überwältigt war, um Worte für meine Dankbarkeit zu finden!«
»Was – weil ich dieses junge Spinnenbein da an Ihrer Schwelle abgeladen habe! Dafür habe ich wirklich keinen Dank erwartet!«
Sie lachte. »Nein? Nun, ich will Sie nicht in Verlegenheit bringen, indem ich Ihnen sage, wie zuriefst dankbar ich Ihnen bin. Statt dessen will ich Sie lieber mit meinen Freundinnen bekannt machen. Lady Weaversham, erlauben Sie mir, Ihnen Mr. Calverleigh vorzustellen. Mr. Miles Calverleigh!« Sie wartete, während er sich vor Ihrer Gnaden mit sachlichem Anstand verbeugte, und sah Abby eine Sekunde lang bedeutungsvoll an, bevor sie ihre Vorstellung fortsetzte. Sie beendete sie, indem sie sagte: »Ich muß Ihnen allen sagen, daß Mr. Calverleigh unser guter Engel ist. Wäre er in seiner außerordentlichen Güte nicht gewesen, dann hätte ich mein junges Spinnenbein gestern – oder vielleicht überhaupt nicht mehr zurückbekommen.«
»Sehr wahr, Mama«, schaltete sich ihr Sohn ein, »aber du bringst ihn in Verlegenheit. Gib nur acht, daß er uns nicht davonläuft!«
»Aber keineswegs!« erwiderte Mr. Calverleigh. »Ich habe noch nie mehr Dankbarkeit mit weniger Mühe errungen. Fahren Sie fort, Ma’am!« Während er sprach, drückte er Oliver in den Lehnstuhl zurück und brachte Mrs. Grayshotts Lobreden wirkungsvoll damit zu Ende, daß er sich neben Oliver setzte und ihn fragte, ob er sich nach der gestrigen Reise etwa schlechter fühle. Oliver hatte kaum Zeit, ihm zu versichern, daß er sich frisch wie ein Fisch fühle, als Lady Weaversham auch schon Mr. Calverleighs Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und ihm erzählte, wie entzückt sie sei, seine Bekanntschaft zu machen, und wie sehr sie seinen Neffen schätze. »Ein so liebenswürdiger junger Mann, und so elegant! Er hat unser aller Herzen gewonnen, wirklich!«
»So?« erwiderte er mit einem ebenso leeren Lächeln, wie es das ihre war. »Wirklich alle, Ma’am?«
Abby, nach außen blind für das spöttische Glitzern in den Augen Mr. Calverleighs, als sie flüchtig ihre eigenen trafen, schäumte innerlich vor Empörung. Nur der Gedanke daran, daß sie mit Fanny verabredet hatte, sie in den Edgar Buildings abzuholen, verhinderte, daß sie dem Beispiel Mrs. Ancrums folgte, die sich soeben erhob, um sich zu verabschieden. Aus dem, was Mrs. Grayshott gesagt hatte, ging hervor, daß Mr. Calverleigh Oliver von Kalkutta heimbegleitet hatte; und ebenso offenkundig war, daß er sich damit das dankbare Herz der Witwe erobert hatte. Mrs. Grayshott hatte ihn einen Schutzengel genannt, worüber Abby gelacht hätte, wenn sie darüber nicht so erbost gewesen wäre. Er mochte ja Oliver gegenüber von gelassener Güte gewesen sein, aber von einem Engel war er weit entfernt. Es hätte Abby viel Vergnügen bereitet, Mrs. Grayshott zu erzählen, wie sehr sie sich irrte. Aber so abscheulich er war – und gerade jetzt am abscheulichsten, weil er nur allzu offenkundig ihr Unbehagen genoß –, blieb dieser Gedanke nur ein sehnsüchtiger Traum. Es kam nicht in Frage, das Schimpfliche an seiner Vergangenheit zu enthüllen, ohne Gefahr zu laufen. Sobald es bekannt oder auch nur vermutet wurde, daß er das war, was Mr. George Brede einen lockeren Vogel genannt hatte, war nicht abzuschätzen, was alles die Klatschbasen entdecken konnten. Außerdem wäre es schäbig gewesen. Zwischenträger waren widerlich. Und man mußte bedenken, daß er für seine jugendlichen Missetaten immerhin mit zwanzig Jahren Exil bezahlt hatte. Es konnte ja durchaus sein, dachte Abby, wenn auch mit etlichem
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