Die galante Entführung
auch Mr. Stacy Calverleigh nicht. Falls er natürlich nicht nur gekommen ist, um seinen Neffen aufzusuchen – nicht, daß daran etwas Schlechtes wäre. Es zeigt sogar, daß er ein sehr richtiges Gefühl besitzt!«
»Nun, das besitzt er nicht!« sagte Abby. »Er wußte nicht, daß sein Neffe in Bath ist, und Familiengefühle hat er überhaupt nicht.«
»Also, mein Liebes, wie kannst du nur… Erzähl mir ja nicht, daß du ihn tatsächlich kennengelernt hast?«
»Er besuchte Mrs. Grayshott, während ich dort war – und war so freundlich, mich heimzubegleiten. Geradezu antiquiert!«
»Ich halte das nicht im geringsten für antiquiert«, versicherte Selina. »Das verleiht mir eine sehr gute Meinung von ihm! Genau wie sein Neffe, dessen Manieren so besonders erfreulich sind!«
»Nach allem, was du mir von seinem Neffen erzählt hast, ist Mr. Miles Calverleigh durchaus nicht wie er!« sagte Abby mit einem unwillkürlichen Lachanfall. »Er ist weder schön noch mondän, und seine Manieren sind jammervoll!«
Selina, die Abby mit echter Empörung betrachtete, sagte: »Liebste, ich bin überzeugt, daß du voreingenommen bist. Das solltest du wirklich nicht sein, obwohl der liebe Rowland immer zu sagen pflegte, es sei deine Gewohnheitssünde. Aber damals warst du noch ein Kind. Das machte es vollkommen verständlich, wie ich Rowland sagte. Man kann nicht erwarten, junge Köpfe – nein, ich meine alte Köpfe auf jungen Schultern zu finden, falls es sich natürlich nicht um eine Mißgeburt handelt! Worüber ich sehr wenig weiß, denn du wirst dich erinnern, Abby, daß der liebe Papa Jahrmärkte äußerst verabscheute und uns nie erlauben wollte, einen zu besuchen. Nun, was in aller Welt habe ich gesagt, daß du vor Lachen brüllst?«
»Überhaupt nichts in aller Welt, Selina!« erwiderte Abby, so gut sie vor Lachen dazu imstande war. »Im – im Gegenteil! Du hast mir nur g-gesagt, daß ich t-trotz all meiner Fehler keine Mißgeburt bin!«
»Meine Liebe, du läßt dich durch deine Freude am Spaß etwas zu weit führen«, sagte Selina vorwurfsvoll. »So etwas hat es in unserer Familie wirklich nie gegeben!« Überwältigt von dieser tröstlichen Versicherung, floh Abby und war sich des Wunsches bewußt, Mr. Calverleigh wäre anwesend gewesen, um ihren Spaß zu teilen. Selina stellte in ihrer weitschweifigen Art das ganze Mittagessen hindurch Mutmaßungen an, über seinen vermutlichen Charakter, was er wohl angestellt hatte, um die Verbannung zu verdienen, und was ihn nach England gebracht haben mochte. Erst Fannys Eintreffen, knapp vor der Teestunde, gab dem Gespräch eine willkommene Wendung. Fanny war erfüllt von den wunderlichen und schönen Dingen, die Oliver Grayshott aus Indien mitgebracht hatte. Selinas Interesse an Elfenbeinschnitzereien oder Messing aus Benares war nur lauwarm, die erste Erwähnung von Kaschmirtüchern und vielen Ellen schönsten indischen Musselins hingegen weckte sämtliche Instinkte der Nähkunst in ihr. Eine eingehende Schilderung des Sari veranlaßte sie, zu erwägen, wie lange es wohl dauern würde, bis sie sich ins Freie wagen konnte. Sie beschwor Fanny, Lavinia zu bitten, den Sari ja nicht verarbeiten zu lassen, bevor sie ihn nicht gesehen hätte. »Denn weißt du, Liebe, so ein vortreffliches Geschöpf Mrs. Grayshott auch ist, Geschmack hat sie nicht, und es wäre doch entsetzlich, wenn eine so erlesene Sache ruiniert würde!« Fanny hatte einen köstlichen Tag in den Edgar Buildings verbracht und hatte vor – die Zustimmung Tante Selinas vorausgesetzt –, ihren Besuch zu wiederholen. Lavinia, ihre beste Freundin, hatte ihr erzählt, wie niedergeschlagen und bedrückt der arme Oliver war, und sie gebeten, wiederzukommen, weil es seine Stimmung sehr gehoben hatte, mit Fanny Spaß zu treiben und Scharaden zu veranstalten. »Und deshalb glaube ich, sollte ich es tun, nicht?« sagte Fanny stirnrunzelnd. »Es bin nicht ich im besonderen, aber er ist gezwungen, einem Besucher gegenüber höflich und heiter zu sein, was einem sehr gut tut, wenn man krank war und sich gräßlich hergenommen fühlt.«
Über Miles Calverleigh hatte sie sehr wenig zu sagen. Es war offenkundig, daß das einzig Interessante an ihm für sie seine Verwandtschaft mit Stacy war. Sie sagte, er sei überhaupt nicht wie Stacy, und erwähnte im nachhinein, er habe erzählt, daß er ihre Mama gut gekannt hatte.
Zu Abbys Erleichterung nahm Selina das hin, ohne eine Frage zu stellen, da sie darin nur einen weiteren Grund
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