Die galante Entführung
ebensowenig wie Selina wußte sie, warum sie sich nach so vielen freien und ungebundenen Jahren in einen so hoffnungslos unpassenden Mann verlieben mußte, der keinerlei Ähnlichkeit mit all ihren flüchtigen Flirts hatte. Sein Lächeln zog sie an, aber kein noch so faszinierendes Lächeln konnte ein Frauenzimmer mit kühlem Kopf – und von mehr als achtundzwanzig Jahren – Gleichgewicht und Urteilsfähigkeit so völlig verlieren lassen, daß es das Gefühl hatte, in dem Eigentümer dieses Lächelns die Verkörperung eines Ideals getroffen zu haben. Nach einer Erklärung suchend, dachte sie, nicht Miles Calverleighs Lächeln sei es, worauf sie sofort angesprochen hatte, sondern das Verständnis, das hinter diesem Lächeln lag. Sie war sich fast vom Beginn ihrer Bekanntschaft einer unfaßbaren Verbindung zwischen ihnen bewußt gewesen, als sei er ihr Gegenstück; und nichts, das er gesagt hatte, keine Enthüllung zynischer Gleichgültigkeit, nicht die völlige Achtlosigkeit der Moral gegenüber hatte diese Verbindung geschwächt. Er konnte sie wütend machen, er entsetzte sie häufig, dennoch fühlte sie sich ihm verwandt.
Sie hatte ihm gesagt, sie sei nicht sicher, daß sie ihn liebe, hatte dies jedoch nicht aus Zweifel an ihrem Gefühl getan, sondern aus Bestürzung über die Erkenntnis, daß sie ihn tatsächlich liebte, was immer er war oder was immer er getan hatte. Wäre sie ein vernarrtes Schulmädchen gewesen wie ihre Nichte, dann hätte sie sich seiner Umarmung hingegeben und die Welt vergessen. Aber mit achtundzwanzig Jahren warf man nicht auf einen Impuls hin alle Gesetze der eigenen Erziehung beiseite; und noch weniger übersah man leichthin die Pflicht, die man der eigenen Familie schuldete. Miles Calverleigh anerkannte keine Familienansprüche, und was sie daran am meisten entsetzte, war die Entdeckung, daß sie darüber nicht schockiert war, sondern statt dessen Neid verspürt hatte.
Sie fragte sich, ob es der rebellische Zug in ihr war, den schon ihre Mutter so häufig beklagt hatte, was sie unwiderstehlich zu Miles Calverleigh hinzog; aber wenn sie das so leidenschaftslos wie möglich überlegte, meinte sie, das verhielte sich kaum so. Es verführte sie vielleicht dazu, etwas Unbedachtes zu tun, traf aber auf keine gleichgestimmte Saite in Miles. Er war kein Rebell. Rebellen kämpfen gegen die Fesseln der Konvention und brennen danach, das zu berichtigen, was sie an den Losungsworten einer älteren Generation als schlecht ansehen, aber Miles Calverleigh gehörte nicht zu ihrer Schar. Ihn bewegte nicht der Wunsch, die Welt zu verbessern, noch das geringste Verlangen, andere zu seiner Denkweise zu bekehren. Er nahm aus einer ungeheuren und vielleicht bequemen Toleranz heraus die Regeln an, die von einer kultivierten Gesellschaft festgelegt worden waren. Wenn er sie überschritt, dann nahm er auch die Rache der Gesellschaft hin, und das mit einer unerschütterlich guten Laune. Weder der Eifer eines Reformators noch die Erbitterung eines für die Sünden seiner Jugend bitter Bestraften weckte einen Funken Groll in seiner Brust. Er trotzte nicht der Konvention; wenn sie nicht die Linie des Verhaltens störte, die er zu verfolgen gedachte – wie immer diese sein mochte –, dann paßte er sich ihr an. Tat sie das jedoch, ignorierte er sie und gestand seinen Kritikern liebenswürdig das Recht zu, ihn zu tadeln, wenn sie sich dazu bemüßigt fühlten. Er kümmerte sich jedoch weder um ihr Lob noch ihren Tadel.
Ein solcher Charakter hätte einer Wendover fremd sein sollen. Abby wußte es und versuchte sich selbst zu überzeugen, daß sie unter der gleichen jugendlichen Verrücktheit litt, die ihre Nichte überfallen hatte und über die sie bald hinwegkommen würde. Es gelang ihr nicht; sie war keine Halbwüchsige, sondern konnte sich an die Qualen ihrer ersten verhinderten Liebe erinnern und wußte, daß ihre gegenwärtige Verfassung ganz anders war als die Freuden und Leiden, die sie vor zehn Jahren erlebt hatte. Wie Fanny hatte sie sich damals in ein hübsches Gesicht verliebt und dessen Eigner mit allen nur denkbaren Tugenden ausgestattet. Als sie amüsiert auf diese Episode zurückblickte, dachte sie, welch ein Glück der unerwünschte Freier gehabt hatte, daß ihn ihr Vater hinausgeworfen hatte, bevor er noch von dem Piedestal stürzen konnte, das sie für ihn errichtet hatte. Aber für Miles Calverleigh hatte sie kein Piedestal erbaut: Der bloße Gedanke, ihn auf eines zu setzen, sprach
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