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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Hollermeier ins Walkie-Talkie. »Jedenfalls nicht das, was da auf dem Schild steht: Darstellung aus der Prometheus-Sage von Piero di Cosimo.«

 
    Kapitel 11
     
     
     
    »Solange die Menschen Lügen über uns erzählen, heißt das nicht viel, schlimm wird es erst, wenn sie anfangen die Wahrheit zu erzählen.«
    George Bernard Shaw
     
     

    LONDON (ENGLAND),
    Dienstag, 9. Oktober, 8.31 Uhr
     
    Sie wunderte sich, warum ihr Gewissen nicht Alarm schlug. Alex hatte seit drei Tagen keinen Morgenlauf mehr unternommen, aber das neu gewonnene Vertrauen in ihren Kör per war ihr dadurch nicht abhanden gekommen. Lucy war schon eine außergewöhnliche junge Frau.
    Alex wohnte immer noch bei der »verrückten Nudel«. Ihre Eltern würden so schnell nicht aus Malaysia zurückkehren, hatte Shaws kleine Schwester erklärt, warum also in Hektik ausbrechen?
    Physisch hatte sich Alex von dem Gasanschlag recht schnell erholt. Die Hautabschürfungen und blauen Flecke schmerzten zwar, aber so spürte sie wenigstens, dass sie lebte. Zum Glück hatte sich der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung nicht bestätigt. Shaw war ein weiches Polster gewesen.
    Darwin Shaw. Jedes Mal, wenn sein Name in Alex’ Bewusstsein auftauchte, löste er ambivalente Gefühle aus. Selten hatte ein Mensch den Schlick ihrer Seele derart aufgewirbelt wie er. Seine Schwester spielte die Rolle des Filters: Durch ihr aktives Zuhören half sie, das trübe Wasser der Emotionen zu reinigen.
    Inzwischen beurteilte Alex sogar seinen Horrorblick anders. Darwin – sie hatte sich in den letzten Tagen immer häufiger dabei ertappt, wie sie in Gedanken seinen Vornamen benutzte – war vielleicht geschockt gewesen, als er sie im Bad überraschte, aber konnte sie ihm diese Reaktion wirklich übel nehmen? Die Menschen gerieten allzu leicht aus der Fassung, wenn ihre auf männlich und weiblich fixierte Gedankenwelt mit etwas dazwischen Liegendem konfrontiert wurde. Viele ahnten kaum, dass sie zwar vielleicht keinen »echten« Hermaphroditen, aber zumindest einen intersexuellen Menschen in ihrem Bekanntenkreis hatten. Über so etwas sprach man nicht. George Bernard Shaw glaubte: »Schweigen ist der vollkommenste Ausdruck der Verachtung.« Und so schwiegen die Ahnenden, weil sie nicht wissen wollten, und die Wissenden, weil sie nicht sehen wollten; manchmal verleugneten sie sogar sich selbst.
    Derlei Einsichten sind niemals angenehm, auch bei Alex verhielt sich das nicht anders. Vor sechs Jahren – sie war damals neunzehn – hatte sie zum ersten Mal per E-Mail mit Selbsthilfegruppen Kontakt aufgenommen. Es war eine unbeschreibliche Offenbarung gewesen, von Menschen mit ähnlichen Lebens- und Leidensgeschichten zu erfahren. Allein sich mit ihnen auszutauschen gab ihr Kraft, sich ihrer Besonderheit zu stellen, den fremdartigen Körper als ihren eigenen zu begreifen, Schritt für Schritt.
    Nie hatte sie jedoch einen ihr gleichen Hermaphroditen gefunden, und selbst die Fachliteratur gab diesbezüglich wenig Anlass zur Hoffnung. Offiziell bezweifelten die Forscher, dass es unter den weltweit knapp dreihundert »Echten« einen einzigen gab, der sich selbst fortpflanzen konnte – obwohl Alex in ihrer Patientenakte etwas anderes gelesen hatte.
    Auf ärztliches Anraten schlief sie seit ihrer Pubertät mit engen saugfähigen Baumwollslips, die ihre äußeren Geschlechtsorgane auf Abstand halten und im Falle eines nächtlichen Samenergusses das Sperma möglichst rasch aufnehmen sollten; deshalb bevorzugte sie tagsüber die bequemeren Boxershorts. Der »Keuschheitsgürtel« war kein vollkommener Schutz vor Selbstbefruchtung, minimierte aber zumindest das Risiko. Trotzdem stand sie jedes Mal, wenn ihre Regel nicht ganz pünktlich kam, unbeschreibliche Ängste durch. Sie legten ihre Gedanken in Ketten, fesselten sie mit einer quälenden Frage:
    Bin ich ein unachtsamer Schläfer gewesen?
    In den vergangenen zwei Wochen hatte Alex mehr als einmal an ihrem Verstand gezweifelt. Konnte das »Gehirn« Rene Magrittes Gemälde allein um des Titels wegen ausgewählt haben? Wie viel wusste das Phantom von dem gelebten Albtraum eines in jeder Hinsicht fruchtbaren Hermaphroditen, eines menschlichen Wesens, das zur extremsten Form der Inzucht fähig war?
    Schon im Teenageralter – seit Alex sich der in ihrem Leib tickenden Zeitbombe bewusst geworden war – hatte sie das Gerede von den Hermaphroditen als nächsten Schritt der Evolution persönlich genommen. Daraus entwickelte sich eine Art

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