Die Galerie der Lügen
»Ah ja! Sie sind mir bereits angekündigt worden. Bitte füllen Sie diesen Besucherschein hier aus. Ich telefoniere in der Zwischenzeit mit dem Superintendent, damit er sie abholt.«
Darwin kritzelte pflichtschuldig seine persönlichen Daten ins Formular. Als er fertig war, lief er unter den Blicken der zwei Wachmänner vor deren Glasscheibe auf und ab.
Das Ganze war absurd. Cadwell hatte am Telefon seiner Freude darüber Ausdruck verliehen, dass Alex Daniels endlich als das »Gehirn« entlarvt worden sei – oder zumindest als der Dieb von De Hoge Veluwe. Weil Darwin sie am besten kenne, solle er die Beamten der NCS beim Verhör unterstützen. Dafür, betonte Cadwell, habe er sich bei Sir Walter Ramleigh persönlich eingesetzt – um das ramponierte Ansehen von ArtCare aufzupolieren.
Darwin möge sich um Himmels willen zusammenreißen und sachlich bleiben. »Halten Sie sich an die Fakten«, hatte der General zuletzt befohlen.
Die Galgenfrist war also verlängert worden. Allerdings fragte sich der Versicherungsdetektiv, für wie lange. Er mochte der verlockenden Lösung nicht glauben. Verständlicherweise suchte sein Chef händeringend einen Schuldigen. Alex Daniels als Drahtzieherin der spektakulären Aktionen zu präsentieren würde ArtCare aus der Schusslinie der Medien bringen…
»Wie geht’s, Sportsfreund?«
Longfellows Bass riss Darwin aus den Gedanken. Er drehte sich zu dem Polizisten um und presste ein Lächeln aus sich heraus. »Den Umständen entsprechend. Was hört man da für abenteuerliche Geschichten von der NCS? Sie haben das › Gehirn ‹ gefasst?«
Longfellow verdrehte die Augen. »Wer hat denn das behauptet?«
»Mein Boss.«
»Na, kommen Sie erst mal mit nach oben. Unterwegs erkläre ich Ihnen die Faktenlage.«
Sie gingen gemeinsam zum Fahrstuhl. Es war die Zeit, da die meisten Mitarbeiter das Haus verließen. Auf dem Weg nach oben waren sie daher allein. Longfellow drehte sich im Lift so zu der Kamera, dass sein breites Kreuz den größten Teil des Bildes ausfüllen musste, und zog einen braunen Umschlag aus dem Sakko hervor.
»Hier nehmen Sie das« , sagte er leise. »Stecken Sie’ s schnell weg. Wenn jemand davon erfährt, könnte mich das die Pension kosten.«
Darwin ließ das Kuvert in der Innentasche seiner Jacke verschwinden. Erst danach fragte er: »Was ist das?«
»Ein paar Neuigkeiten über Alex Daniels’ Familie. Der genetische Fingerabdruck von Bo Johansen, dem Flüchtigen aus Oslo, stimmt mit dem ihren zu neunundneunzig Komma neun Prozent überein.«
»Daniels, die Leiche aus dem Louvre, Lovecraft und jetzt auch noch Johansen? Dann wären sie ja Vierl inge.«
»Wenn es dabei bleibt.«
»Wieso? Gibt es noch Neues von der Toten aus Barbados?«
»Ob uns die angebliche Theodora Kezia Kendish je ihr Geheimnis verrät, wage ich zu bezweifeln. Aber Ihr Tipp, uns mal die Todesfälle der letzten Zeit etwas genauer anzusehen, hat etwas anderes zu Tage gefördert. In…«
Der Lift blieb ruckend stehen. Die Fahrstuhlstüren glitten auseinander. Longfellow trat in den Flur und blickte sich um. Darwin folgte ihm. Niemand war zu sehen.
»In dem Umschlag«, fuhr der Polizist leise fort, »werden Sie die Namen von vier weiteren Doppelgängern beziehungsweise Doppelgängerinnen finden, zwei im Vereinigten Königreich, eine in Italien und einer in Deutschland. Sie sind alle in den letzten sechs Monaten durch Unfälle oder Selbstmord ums Leben gekommen. Die Kollegen in den jeweiligen Ländern haben die Fälle genauer unter die Lupe genommen und eine weitere Parallele festgestellt.«
»Was denn noch?« Darwins Verstand sträubte sich bereits, das bisher Gehörte zu akzeptieren. Achtlinge!
»Alle vier hatten eine Geschlechtsumwandlung hinter sich, weil sie als so genannte › echte Hermaphroditen ‹ zur Welt gekommen waren. Sie wissen, was das bedeutet?«
Darwin nickte. »Menschen mit voll funktionsfähigen männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen. Das alles ist unfassbar. «
»Können Sie laut sagen. Ob sich aus dieser Anomalie ein Mordmotiv ableiten lässt, bleibt festzustellen. Aber es wird noch besser. Unter den Dokumenten, die ich Ihnen kopiert habe, finden Sie etwas, das Sie möglicherweise umhauen wird: HUGE ist ein Schwesterunternehmen von ArtCare; beide gehören zu MacKane Enterprises.«
Darwin riss die Augen auf. Er wusste zwar, dass die Holding, zu der auch seine Versicherung g ehörte, einen riesigen Gemischt warenladen kontrollierte, aber das…!
Longfellow
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