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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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gesehen.
    »Darf ich vorstellen, Doktor? Mr Darwin Shaw, leitender Ermittler der ArtCare-Versicherung«, sagte Longfellow, an den Arzt gewandt.
    »Angenehm. Dr. Lindsey Atkey«, erwiderte dieser und schüttelte Darwin die Hand. Atkey mochte Ende vierzig sein, hatte feine Gesichtszüge und dunkles, grau meliertes Haar. Unzählige Fältchen zogen sich wie stilisierte Strahlen von seinen lebendig funkelnden braunen Augen zu den Schläfen hin.
    »Wie geht es Ms Daniels?«, fragte Darwin.
    »Sie hat eine Menge Abschürfungen und kleinere Schnitte. Nichts Dramatisches.«
    »Ist sie vernehmungsfähig?«, erkundigte sich Longfellow.
    Atkey nickte. »Grundsätzlich ja. Gönnen Sie ihr eine Nacht Ruhe. Sie kommt mir momentan ziemlich labil vor, sowohl psychisch als auch physisch. Alles nichts Ernstes. Ihre Blessuren bereiten mir weniger Sorge als ihre körperliche Erschöpfung. Nur ihre Reflexe…« Er schüttelte den Kopf.
    »Was ist damit, Doktor?«, fragte Darwin.
    »Wir müssen das Ergebnis der Blutuntersuchung abwarten, aber ich tippe auf ein starkes Sedativum.«
    »Sie meinen, man könnte sie betäubt haben?«
    »Es hat den Anschein.«
    Darwin und Longfellow wechselten einen Blick.
    »Die Abschürfungen, von denen Sie gesprochen haben – wo genau befinden sich die?«
    »Darüber darf ich Ihnen leider keine Auskunft erteilen.«
    »Sie wissen, was Ms Daniels am Leib trug, als sie festgenommen wurde?«
    »Natürlich. Ich war dabei, als sie sich entkleidet hat.«
    »Tatsächlich! Und das hat sie zugelassen?«
    »Sie meinen, weil sie ein Hermaphrodit ist?« Der Arzt lächelte.
    »Ich habe Dr. Atkey vorgewarnt«, erklärte Longfellow.
    Darwin kam das Verhalten von Alex, so wie es ihm geschildert wurde, mehr als ungewöhnlich vor. Er hatte sie anders kennen gelernt. »Worauf ich hinauswill, Doktor: Wenn man nachts durch einen dunklen Wald flieht, kann man natürlich hier und da anstoßen, man streift an Ästen entlang – können die Verletzungen, die Ms Daniels hat, von daher rühren?«
    »Wohl kaum. Dazu hätte sie nackt durch den Park laufen müssen. Und die vermeintliche Schusswunde«, fügte er an Longfellow gerichtet hinzu, »ist ein Schnitt.«
    »Kein Streifschuss?«, hakte der Kriminalbeamte nach.
    »Ich habe schon viele Schussverletzungen behandelt, Superintendent. Ich tippe hier eher auf Glass cherben oder scharfe Splitter.«
    Longfellow nickte. »Danke, Doktor.«
    »Keine Ursache, Superintendent. Dazu bin ich ja da.« Der Arzt sah wieder Darwin an. »Ach, Mr Shaw. Auf ein Wort.« Er winkte in Richtung Fahrstuhl.
    Longfellows Stirn furchte sich.
    Darwin ging zusammen mit dem Doktor zum Lift. Atkey drückte die Taste, um den Aufzug zu rufen.
    »Sie fragen sich, warum Ms Daniels sich so bereitwillig von mir untersuchen ließ«, sagte er leise. Es war eine Feststellung, keine Frage.
    Darwin nickte. »Allerdings. Sie hat, offen gestanden, von Ihrem Berufsstand keine sehr hohe Meinung.«
    »Das kann ich gut verstehen. Aber ich bin die Ausnahme.«
    Ein hoher Glockenton wie von einem Triangel erklang. Die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Darwin legte seine Hand auf die Lichtschranke.
    »Verraten Sie mir Ihr Geheimnis.«
    »Ist Ihnen nichts an meinem Vornamen aufgefallen? « Lächelnd zog der Arzt eine Visitenkarte aus der Innentasche und streckte sie Darwin entgegen.
    Er nahm sie, warf einen Blick darauf. »Lindsey? Was soll mir daran…?« Mit einem Mal wurden seine Augen groß.
    Atkey nickte. »Er ist geschlechtsneutral. Als intersexueller Mensch lernt man diesen Vorzug zu schätzen.«
    Er trat in den Fahrstuhl. Darwins Hand gab die Türen frei, sie schlossen sich, und der Hermaphrodit entschwand.
     
     
    »Wollen Sie da anwachsen, oder was?«
    Longfellows Stimme weckte Darwin aus seiner Benommenheit. Er blinzelte. Hatte Alex nicht einmal gesagt, unter zweitausend Menschen gebe es einen, vielleicht sogar zwei intersexuelle Personen? Damals hielt er das für eine Übertreibung. Jetzt nicht mehr.
    »Ich komme«, rief er und lief durch den Gang zurück.
    »Was wollte der Doktor?«, fragte Longfellow.
    Darwin zuckte mit den Schultern. »Was Persönliches. Hat nichts mit dem Fall zu tun.«
    Der Polizist musterte ihn aus seinen braunen Augen, sagte jedoch nichts.
    »Kann ich allein mit ihr sprechen?«, fragte Darwin freiheraus.
    »Das ist nicht Ihr Ernst«, brummte Longfellow.
    »Wem von uns beiden vertraut sie mehr, Mortimer, Ihnen oder mir?«
    »Eigentlich dürften Sie sich nicht einmal in diesem Gebäude aufhalten,

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