Die Galerie der Lügen
konnte sie ihre Arbeit fortsetzen. Das Mauerwerk über dem Schacht war mehr Füllstoff als tragendes Element. Trotzdem brauchte Alex länger, als sie sich vorgestellt hatte. Mehrmals musste sie zwischendurch ausruhen, um wieder neue Kraft zu schöpfen. Immer wieder stillte sie ihren Durst aus dem Handwaschbecken. Dann endlich war sie im Schacht.
Schwer atmend ließ sie sich auf den Rand der Badewanne sinken. Sie hatte bestenfalls die Hälfte geschafft, machte sie sich klar.
Jetzt musste sie irgendwie an den Kabeln vorbei die gegenüberliegende Wand durchbrechen.
Als Alex sich wieder stark genug fühlte, untersuchte sie den Hohlraum. Für eine schlanke Person wie sie war er breit genug zum Hindurchzwängen, weil er nicht nur die Elektrik führte, sondern auch einen voluminösen Kunststoffschlauch für den Luftabzug enthielt. Als sie die Kabel zur Seite drückte, glaubte sie den Strom fühlen zu können, eine Einbildung zwar, aber eine sehr überzeugende. Sie durfte die Isolierungen auf keinen Fall verletzen.
Mit dem Wasserhahn klopfte sie gegen die Rückwand des Schachtes und erlebte eine Überraschung. Sie klang anders. Hohl. Wie Holz!
Wieder ließ Alex ihre Haut stärker aufleuchten, und jetzt konnte sie unter all dem Staub, den sie aufgewirbelt hatte, tatsächlich eine Holzplatte erkennen. Offenbar gab es im Nebenraum einen Zugang zum Schacht.
Es dauerte nicht lang, und sie hatte zwei Scharniere gefunden. Mit einigen wütenden, gleichwohl gezielten Schlägen brach sie die Tür aus der Verankerung. Gedämpftes Licht drang durch das rechteckige Loch. Tageslicht! Freudentränen rannen ihr über die Wangen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.
Nachdem Alex mit ihrem Schwinghammer einige scharfe Kanten des ausgefransten Loches entgratet, den Abzugsschlauch herausgerissen und die Kabel zur Seite gedrückt hatte, streckte sie ihren Kopf durch die Öffnung.
Durch vier unverstellte Fenster fiel graues Tageslicht in das Nebenzimmer. Entweder war der Himmel stark bewölkt, oder es dämmerte bereits. Alex sah ein paar übereinander gestapelte Stühle und andere verstaubte Möbel. Der Raum war eine ziemlich große Abstellkammer.
»Nichts wie weg hier«, flüsterte sie und machte sich daran, dem Kopf die Schultern und dann den Rest ihres Körpers folgen zu lassen. Dabei riss einer ihrer BH-Träger, und die Boxershorts hätte sie auch um ein Haar eingebüßt. Zu den zahlreichen Schrammen auf ihrer Haut kamen ein paar weitere hinzu. Aber sie spürte den Schmerz kaum noch, als wäre sie nur Gast in ihrem Körper.
Früher hatte sie ständig so empfunden.
Aber jetzt nicht mehr. So schrecklich die Begegnung mit Theo auch verlaufen war, hatte sie für Alex in dem langen Flur zu ihrer Selbstfindung doch eine weitere Tür geöffnet. Sie mochte sich in seinem Charakter geirrt haben, aber zurück blieb trotzdem das überwältigende Gefühl, nicht allein auf der Welt zu sein. Abgesehen von ihnen beiden gab es andere ihrer Art. Wenn auch einige inzwischen nicht mehr lebten, waren es einmal mindestens elf gewesen. Vielleicht auch noch mehr…?
Der Schacht war durchquert. Sie rappelte sich vom Boden auf und lief zu einem der Fenster. Zum ersten Mal konnte sie die Umgebung von Theo’s Castle sehen. Allerdings gab es da wenig Orientierungshilfen. Unter dem Haus erstreckte sich eine Vorfahrt, ein Rondell aus Kies. Hohe Bäume versperrten den Blick in die Ferne. Plötzlich überkam Alex ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn auch dieses Zimmer abgeschlossen war? Rasch eilte sie zur Tür. Sie schloss die Augen, biss sich auf die Unterlippe und drehte am Knauf.
Die Tür öffnete sich.
Sie huschte auf den Flur hinaus. Bei dem Lärm, den sie gemacht hatte, war eigentlich nicht mit der Anwesenheit anderer im Haus zu rechnen. Trotzdem schlich sie auf leisen Sohlen den Gang entlang, vorbei am Speisesalon, zur Treppe. Die bunten Glasfenster verliehen dem farblosen Tageslicht etwas Fröhliches. Die Ausbrecherin geriet in Hochstimmung.
Das Glücksgefühl bekam jedoch bald einen Dämpfer, als sie sich in der Diele ihres erbärmlichen äußeren Zustandes bewusst wurde. Sie trug aufgerissene Seidenhöschen, ihr BH hing auf Halbmast, und der Gesamteindruck kam dem Bild der Neugeborenen, die sie in ihren Albträumen erblickt hatte, ziemlich nah.
Sie brauchte etwas zum Anziehen.
Alex blickte unschlüssig in die beiden Flure, die gegenüber dem Ausgang und der Treppe zu weiteren Zimmern führten. Irgendwo musste Theo ja seine Garderobe aufbewahren.
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