Die Galerie der Lügen
Sie lief in den Gang zu ihrer Rechten und öffnete die erste Tür. Dahinter befand sich eine Bibliothek. Alex wechselte auf die andere Seite des Flurs und entdeckte eine Werkstatt.
In einem Wandregal standen mehre weiße Quader und einige Rohlinge, in denen Alex die Umrisse von Figuretten zu erkennen glaubte. Offenbar stellte Theo hier seine »Familiengalerie« her. Ihr Blick blieb an einer Statue hängen, von der man erst den Oberkörper aus dem Stein ragen sah. Mit den Händen balancierte sie irgendeinen Brocken über dem Kopf. Wie der Herkules im Speisesalon, dachte Alex.
Gerade wollte sie die Tür zur Werkstatt wieder schließen, als sie auf dem Arbeitstisch beim Fenster eine weitere Plastik bemerkte. Ein weiblicher Akt. Die Hände der kleinen Aphrodite waren hinter dem Kopf verschränkt. Irgendwie kam die aufreizende Pose Alex bekannt vor, aber die Details waren nicht fein genug, um die Figur einem der Namen zuzuordnen, die sie an jenem verhängnisvollen Abend im Esszimmer gesehen hatte.
Die Augen der Schönen waren verbunden.
Alex riss sich von der Statuette los. Hier würde sie nicht finden, wonach sie suchte. Sie schloss die Tür und machte sich an die Erkundung des nächsten Raumes.
Es war ein Büro, voll gestopft mit Aktenordnern. Auf einem Tisch lagen Baupläne, vermutlich von den Museen, die Theo bestohlen hatte. Kleidungsstücke waren keine zu finden.
So ging es weiter, bis am Ende des Ganges nur noch zwei Türen übrig waren. Die rechte war mit einem Zahlenschloss versehen.
Ein weiteres Gefängnis?, dachte Alex. Mit einem Mal durchfuhr sie ein elektrisierender Gedanke. Oder die »Galerie der Lügen«?
Bis auf den zerstörten Hermaphroditen hatte Theo alle Kunstwerke in seinen Besitz gebracht. Angesichts des Medienspektakels um die Einbruchsserie dürfte er sie kaum an Hehler verkauft haben. Also musste er sie noch irgendwo aufbewahren. Vermutlich in seinem Haus, dessen genaue Lage er so beharrlich zu verbergen suchte.
Alex lächelte grimmig.
Sie bückte sich, um ihr Gesicht nahe an das Zahlenschloss zu bringen. Kam da ein schwaches Pulsieren aus dem Edelstahlkästchen? Sie legte ihre Hand auf die Tasten. Als Theo die sechsstellige Kombination zum Gästezimmer gewählt hatte, war sie zwar benommen gewesen, aber nicht benebelt genug, um ihren empfindlichen Elektromagnetismussensor schachmatt zu setzen.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie sich an die Impulsfolge zu erinnern. Die Abstände folgten wie Tanzschritte einem ganz bestimmten Schema. Waren es die Ziffern 4-3-9-5-8-6-7 oder 3-2-8-4-7-5-6 oder auch 1-0-6-2-5-3-4? Nach diesem Muster musste der Code aufgebaut sein. Sie hatte leider keine Ahnung, mit welcher Zahl sie den Tanz der Schwingungen beginnen sollte. Alex tippte die erste Ziffernfolge.
Nichts.
Die zweite Kombination.
Wieder nichts.
Als sie die dritte Möglichkeit zu wählen begann, hörte sie plötzlich ein Geräusch. Vor Schreck konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Ihr Kopf fuhr noch herum, der Blick suchte ein Versteck, da öffnete sich auch schon mit Schwung die Haustür.
In dem vom Tageslicht gemalten Rechteck stand die Silhouette eines schlanken Mannes, der ein flaches Paket unter dem Arm hielt. Und dann hörte sie Theos spöttische Stimme.
»Ah! Du hast also ausgeschlafen. Wolltest du mich etwa verlassen, ohne dich zu verabschieden?«
Kapitel 16
»Je mehr Leute es sind, die eine Sache glauben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Ansicht falsch ist. Menschen, die Recht haben, stehen meistens allein.«
Sø ren Kierkegaard
ÜBER DEM ÄRMELKANAL,
Montag 15. Oktober, 15.30 Uhr
Die Beric hterstattung in den Medien erin nerte an George Orwells 1984. Darin beschrieb der en gl ische Schriftsteller auf beklemmende Weise die täglichen »Zwei-Minuten-Hass-Sendungen«, die sich gegen »Emmanuel Goldstein, Feind des Volkes« richteten. Während des Aufenthalts in Holland war Darwin mehrmals über seinen eigenen Namen gestolpert, mal in einem Zeitungsbericht, den ihm ein aufmerksamer Museumsmitarbeiter zuschob, dann wieder im Frühstücksfernsehen im Hotelzimmer. Auch an diesem Montagmorgen hatte Darwin den TV-Empfänger eingeschaltet und auf CNN sein Konterfei gesehen. Die Meldungen vom neuesten Museumsraub überschlugen sich. Als er während seines Fluges nach London den Evening Standard aufschlug, kam er sich wie der moderne Goldstein vor.
Bis vor wenigen Tagen hatte es eine klare Trennung zwischen jenen Printmedien
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