Die Galerie der Lügen
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Sel borne House schlief, abgesehen von den nimmermüden Sicherheitskräften sowie fünf Personen in einem einzelnen Büro. Es war ein nach abges tandenem Rauch riechender, spär lich beleuchteter Raum enormer Größe mit Holztäfelungen an Wänden und Decken, schweren Teppichen auf dem Boden, antiken Möbeln, alten Ölschinken mit todernst dreinblickenden Honoratioren und einer Atmosphäre, wie man sie eher bei einer Sé ance als bei einem Gespräch von nationaler Bedeutung erwartete.
Das nächtliche Treffen wurde geleitet von The Right Honourable the Lord Malcolm Horace of Witcombe. Der Zweiundsiebzigjährige war nicht nur der höchste Staatsbeamte, sondern auch der Erste Justizminister von England und Wales. Sein Wort hatte Gewicht, wie Darwin inzwischen erfahren durfte. Dass Lord Malcolm auch anonyme Anrufe tätigen ließ, stand auf einem anderen Blatt.
Der Politiker wirkte wie ein alter Brigadegeneral: groß, kräftigt gebaut, grau wie ein Wolf, ständig eine Pfeife haltend, egal ob diese gerade brannte oder nicht. Er befreite das einer Seeschlange ähnelnde Mundstück aus dem Gehege seiner gelben Zähne und schöpfte tief Atem.
»Sie werden sich bestimmt fragen, wieso der Lordkanzler um diese unchristliche Zeit ein Treffen anberaumt, auf das der Terminus › konspirativ ‹ in jeder Hin sicht zutrifft«, sagte Lord Wit combe, nachdem er allen Anwesenden für ihr Kommen gedankt hatte, in der sperrigen Ausdrucksweise eines Juristen.
Außer Darwin und Alex waren noch Detective Superintendent Mortimer Longfellow und eine Stenografin anwesend. Letztere saß nicht mit am runden Besprechungstisch, sondern etwas abseits neben einer Stehlampe und protokollierte jedes gesprochene Wort auf einer Schreibmaschine für Kurzschrift.
Keiner der Anwesenden erwiderte etwas auf die Eröffnungsworte des Vorsitzenden.
»Obwohl ich Sie bitten muss«, fuhr dieser daher fort, »vorerst alles in diesem Arbeitszimmer Gesagte für sich zu behalten, bin ich mir doch der Tragweite meiner nun folgenden Ausführungen bewusst. Vermutlich werde ich von meinem Amt zurücktreten müssen. Deshalb habe ich mir diesen Schritt reiflich überlegt. Fast zu reiflich. Sie, Detective Superintendent Longfellow«, er sah selbigen an, »wie auch Sie, Mr Shaw«, sein Blick wechselte zu Darwin, »sind im Fall der Museumseinbrüche und der Hermaphroditen schon so weit vorgedrungen, dass Ihnen ohnehin bald alle Fakten vorgelegen hätten. Angesichts der in acht Tagen anstehenden Abstimmung im Unterhaus über die Gesetzesvorlage zum weitgehenden Wegfall von Beschränkungen in der humangenetischen Forschung sehe ich mich jedoch gezwungen, Ihnen noch ein mal meine Unterstützung angedei hen zu lassen.«
Darwin bemerkte, wie Alex an seiner Seite unruhig hin und her rutschte. Vermutlich hätte sie – wie er – lieber ein paar Antworten im Telegrammstil als die gestelzten Erklärungen eines redseligen alten Mannes. Aber einen Lord Chancellor unterbrach man nicht.
Was dieser im Folgenden ausführte, war dann aber, trotz der barocken Diktion, derart fesselnd, ja, unglaublich, dass es Darwin ohnehin die Sprache verschlug.
Der Justizminister saugte an seiner Pfeife, die inzwischen erloschen war, nahm sie beim Kopf in seine kräftige Rechte und fixierte mit seinen graublauen Augen einen imaginären Punkt am Ende der Milchstraße an.
Vor gut dreißig Jahren, so begann er, habe MacKane Enterprises – lange bevor dem Konzern eine Versicherung namens ArtCare gehörte – eine Stiftung zur humangenetischen Forschung namens HUGE ins Leben gerufen, »um das Wissen über das menschliche Erbgut zu mehren«, wie es im Gründungsdokument hieß.
Von Anfang zeigte sich das Militär äußerst interessiert an den Experimenten, die in einem vor der Öffentlichkeit abgeschotteten Laborkomplex am Rande von Edinburgh durchgeführt wurden. Bald förderte es die Arbeit sogar mit Mitteln aus einem Geheimfond. Vielleicht hatten einige Generale zu viel Science-Fiction gelesen, bemerkte der Justizminister mit bitterböser Miene, und erhofften sich eine Armee von empfindungslosen Supersoldaten mit genau vorherzubestimmenden Eigenschaften… Er schüttelte den Kopf. Das sei natürlich völliger Unsinn. Unbestreitbar habe man zu dieser frühen Zeit jedenfalls ein Potenzial gewittert, das einen Vorteil versprach, gegen wen auch immer.
»Ich war damals Forschungsminister«, erklärte Witcombe, »und wurde darum in das Projekt eingeweiht. Obwohl ich dessen ethische Aspekte für
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