Die Galerie der Lügen
Abwesenheit von Daniels’ Anwalt erwähnte. Er habe die Haftanstalt kurz nach Longfellow verlassen. Ein taktischer Schachzug? Daniels konnte auf ihren Rechtsbeistand während der Befragung bestehen.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, erklärte der Aufseher und drückte dem Besucher einen geschlossenen Briefumschlag in die Hand. »Soll ich Ihnen von Detective Superintendent Longfellow geben.« Anschließend reichte er Darwin an eine mollige dunkelhäutige Wärterin weiter, die nicht aussah, als könne sie Spaß verstehen. Auf ihrem Namensschild stand der Name Betty Turner.
Durch klinisch reine Gänge und mehrere Sicherheitsschranken wurde er in ein Besuchszimmer geführt, das üblicherweise von Rechtsanwälten und ihren Mandantinnen benutzt wurde. Er zog seinen Regenmantel aus und hängte ihn an den Aluminiumkleiderständer, der neben der Tür stand. Anschließend nahm er auf einem ungepolsterten Plastikstuhl Platz, legte seine Aktenmappe auf die Tischplatte aus grauem Kunststoff und entnahm ihr das Dossier. Die Wärterin beschied ihm zu warten. Es dauere nicht lang. Dann ließ sie ihn allein.
Männergefängnisse hatte Darwin schon zuhauf besucht, aber noch nie einen Frauenknast. Er ertappte sich dabei, wie er den Sitz seiner Krawatte kontrollierte. Kleiderkonventionen waren ihm ein Graus. Am liebsten trug er legere, sportliche Kleidung. Im Dienst erfüllte er aber die Minimalanforderungen des im Mitarbeiterhandbuch von ArtCare festgeschriebenen Dresscode: Kulturstrick, Sakko und Baumwollhosen. Den Designeranzug zog er nur an, wenn er sich mit frisch bestohlenen Museumsdirektoren oder anderen VIPs auseinander setzen musste.
Er holte ein kleines digitales Sprachaufzeichnungsgerät aus der Brusttasche, drückte den Aufnahmeknopf und ließ es wieder in der Jacke verschwinden. Anschließend öffnete er den Umschlag, um Mortimers Nachricht zu lesen. Auf dem Zettel standen nur drei Worte:
Sie leugnet alles.
Schon nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür des Besucherzimmers, und eine junge Frau in Handschellen wurde hereingeführt.
In natura sah sie besser aus als auf dem Foto, das der Oxford Chronicle auf seiner Website veröffentlicht hatte. Das war schon bemerkenswert, denn Alex Daniels war ungeschminkt und machte einen eher verstörten Eindruck. Seinem Blick begegnete sie mit versteinerter Miene.
Einen Atemzug lang starrte er sie verwirrt an. Ihre Augen! Kann ein Mensch eine violette Iris haben? Er rief sich das Dossier in Erinnerung. Darin hatte viel über die Journalistin gestanden, aber dieses wohl einmalige Merkmal war ungenannt geblieben. Vielleicht trug sie besonders ausgefallene Kontaktlinsen? Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass die Farbe echt war, eine Laune der Natur.
Sein detektivischer Spürsinn empfing aber noch andere Signale: Diese Frau verbarg etwas. Er suchte nach rationalen Gründen für seine Empfindung. Lag es an ihren Augen? Oder an ihrer Körperhaltung? Obwohl jede Verhaftung für die Betroffenen eine Demütigung war, hielt sie sich auf eine fast trotzige Weise aufrecht. In Darwins sauber geordnetem Kategoriensystem verkörperte Alex Daniels perfekt das Klischee der James-Bond-Schurkin: nordische Schönheit, kühl wie ein Fjord, verführerisch wie ein Polarlicht und zugleich unnahbar wie eine Eisbärenmutter. Wahrscheinlich eine Emanze, dachte er, die mit Polemik gegen die Übermacht der Männerwelt in der Forschung kämpft.
Während sie näher trat, beobachtete er ihren geschmeidigen Gang. Obwohl oder gerade weil die anstaltseigenen Jeans und die blaue Hemdbluse eher weit saßen, schätzte Darwin sie als jenen drahtigen Typ ein, der seine Grenzen immer wieder in sportlichen Herausforderunge n auslotete. Marathon oder Free climbing, tippte er. Sie mochte annähernd fünf Fuß und neun Zoll groß sein. Die hellblonden Haare trug sie kurz, vermutlich um das lange schmale Gesicht etwas runder erscheinen zu lassen. Selten hatte er bei einer Frau einen so makellosen Teint gesehen.
»Ihre Gefangene«, sagte die Wärterin, als überreiche sie eine wiedergefundene Jacke.
»Danke«, erwiderte Darwin. »Würden Sie Ms Daniels bitte die Handschellen abnehmen?«
»Davon rate ich ab.«
»Wieso?«
»Sie hat sich gestern bei der Registrierung auffällig verhalten.«
»Was soll das heißen?«
»Darüber kann ich nichts sagen.«
Darwin wandte sich Alex zu. »Versprechen Sie mir, keine Schwierigkeiten zu machen?«
Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur mit ausdrucksloser Miene
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