Die Galerie der Lügen
eingehen…?
Kapitel 4
»Wer zu schweigen versteht, weiß auch zur rechten Zeit zu sprechen.«
Niccolò Tommaseo
LONDON (ENGLAND),
Mittwoch, 26. September, 17.20 Uhr
Londons Rushhour war tödlich. Die sicherste Methode, sich ein oder zwei Stunden nicht vom Fleck zu bewegen, bestand darin, sich in ein Auto zu setzen und dieses geradewegs in den Feierabendverkehr zu lenken. Darwin hatte das einzig Vernünftige getan. Er fuhr mit der Tube, der Untergrundbahn. Die fünf Stationen von Bank in Richtung Norden nutzte er, um das Studium von Alex Daniels’ Akte fortzusetzen. Die vier Mitarbeiter seiner Abteilung hatten in der letzten Nacht und am Vormittag ihr Bestes getan, um den Bericht der National Crime Squad und ergänzende Informationen aus dem Internet zu einem aussagefähigen Dossier zusammenzustellen. Ein Telefonat mit Darwins Verbindungsmann bei der NCS warf dann aber mehr Fragen auf, als es Antworten gab.
Mortimer Longfellow hatte, nach eindringlichem Hinweis auf die Geheimhaltungspflicht, von »neuen daktyloskopischen Erkenntnissen im Hermaphroditen-Fall« berichtet: Die im Louvre sichergestellten Fingerabdrücke hätten unerwartet einige unbequeme Fragen aufgeworfen. Nichts, was Ms Daniels wirklich entlaste. Möglicherweise nur ein Datenerfassungsfehler. Die NCS gehe der Sache im Augenblick nach. Darwin solle sich davon vorerst nicht irritieren lassen.
Genau das Gegenteil traf ein. Nachdem der Kripobeamte einige Details herausgelassen hatte, war Darwin verunsichert.
Longfellow hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf, sondern erzählte in seiner typisch knappen Art von der Verhaftung am vergangenen Abend; von der Daily-Mirror- Furie, die ihm eine »aufmerksame Presse«, versprach; von Ms Daniels’ vorzüglich gespielten Unschuldsbeteuerungen; von einem Zwischenfall bei der ID -Behandlung, über den er auch nichts Näheres wissen wollte; davon, dass man die Gefangene schließlich ruhig gestellt habe und nun der ganze Zeitplan ein wenig durcheinander geraten sei: nach dem Mittagessen Gespräch mit dem Anwalt, anschließend die Vorführung beim Haftrichter, dann eine nette Unterhaltung mit der Nationalen Kriminalpolizei. Erst danach, so gegen halb sechs, könne ArtCare die Verdächtige haben.
Der Versicherungsdetektiv war mit den feinfühligen Verhörmethoden Longfellows bestens vertraut. Die beiden kannten sich seit Darwins Zeit bei der Militärpolizei, als sie in einem Fall schweren Kunstraubes Hand in Hand zusammengearbeitet hatten. In den Wirren des letzten Golfkrieges waren aus dem Irakischen Museum Jahrtausende alte Artefakte entwendet worden. Darwin und Longfellow hatten dem irakischen Volk und damit der gesamten Menschheit einige der Kulturschätze zurückgeben können, als sie vier Angehörige der Royal Army dabei erwischten, wie sie die Objekte in Militärmaschinen nach Großbritannien schmuggelten. Auch wenn aus dem gemeinsamen Erfolgserlebnis nicht die große Männerfreundschaft geschmiedet worden war, schätzten und achteten die zwei Ermittler sich gegenseitig.
Nachdem Darwin am Bahnhof King’s Cross in die Piccadilly Line umgestiegen war, las er den vom Oxford Chronicle am Morgen online gestellten Artikel.
PREISTRÄGERIN UNTER MORDVERDACHT
Oxford – (jr) Die Society of Critical Scientists verlieh gestern Abend den Intelligent Design Encouragement Award 200 7 (IDEA) an die Londoner Publizistin Alex Daniels (25). Die Auszeichnung wird alljährlich für herausragende publizistische Arbeiten im Bereich der »Schöpfungswissenschaften« vergeben. Im Anschluss an den F estakt stürmte ein Einsatzkommando der National Crime Squad die ehrwürdigen Räume des Lady Margaret Hall College und verhaftete die Preisträgerin. Noch in der Nacht wurde Daniels ins Londoner Frauengefängnis Holloway verbracht und soll heute dem Haftrichter vorgeführt werden. Die Anklage: Mittäterschaft bei dem spektakulären Museumseinbruch im Pariser Louvre am 9. September, in dessen Verlauf eine Bombe zwei Menschen tötete und eine antike Statue zerstörte. In den letzten vier Jahren hat sich Alex Daniels zur intellektuellen Speerspitze der britischen Kreationisten gemausert. In der Szene wird sie für ihre Spitzzüngigkeit gefeiert, bei den ernst zu nehmenden Naturwissenschaftlern gilt sie dagegen als Enfant terrible. Kreationisten sehen in den Erkenntnissen moderner Evolutionsforschung reine Augenwischer ei. Sie behaupten, es gebe bei den Fossilien keine Übe rgangsformen,
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