Die Galerie der Lügen
die eine fortlauf ende Aufwärtsentwicklung vom Einzeller zum Menschen belegten. Die zufällige Entstehung des in der DNA gespeicherten genetischen Codes halten sie ebenfalls für unmöglich. Außerdem müsse die gestalterische Kraft der natürlichen Zuchtwahl ohnehin scheitern, wenn sie auf »nicht reduzierbare Komplexität« treffe. Diese finde man zahlreich in vernetzten Strukturen wie Körperorganen, deren einzelne Teile, Funktionen und Gene erst aus dem Zusammenspiel zahlreicher Komponenten einen biologischen Wert ergäben. Hinter solchen und anderen pseudowissenschaftlichen Argumenten verbergen die Kreationisten ihre alttestamentlichen Glaubenssätze: Die Erde wurde von Gott vor 10000 Jahren erschaffen, und er brauchte dazu nur sechs 24-Stunden-Tage.
In den USA zweifelt die Hälfte der Bevölkerung daran, dass der Mensch vom Affen abstammt. Deshalb treten die Kreationisten dort auch mit mehr Dreistigkeit auf als hierzulande. Immer wieder versuchen sie sogar, die Evolutionslehre aus dem Schulunterricht zu verbannen oder zumindest eine Gleichstellung mit der »Schöpfungswissenschaft« durchzusetzen. Bishe r ohne größeren Erfolg. Im 21. J ahrhundert wirkt ein solcher Dogmatismus befremdend, gestand Papst Pius XII. doch schon 1950 in der Enzyklika »Humanae Generis« jedem Christen zu, jede wissenschaftliche Lehre für wahr zu halten. Nur die Unsterblichkeit der Seele dürfe nicht i n Frage gestellt werden. Papst J ohannes Paul II. bekräftigte 1985 diesen kirchlichen Standpunkt, und 1996 sagte er von der Abstammungslehre, sie sei »mehr als eine Hypothese«.
Den Kreationisten ist eine solche Haltung zu liberal. Ihr Hauptziel besteht darin, in den angeblichen Schwächen der Evolutionstheorie herumzustochern, um diese unglaubwürdig zu machen. Die Forschungsergebnisse Tausender Naturwissenschaftler halten sie für unbewiesen, verteidigen aber zugleich den Glauben an eine Hölle und die Vorherbestimmung des einzelnen Menschen zur Seligkeit oder Verdammnis durch Gottes Gnadenwahl.
Eigentlich ist die am Dienstag in Oxford verhaftete Publizistin eine intelligente Frau. Sie hat am Londoner Goldsmiths studiert, besitzt einen BA in Anthropologie und Kommunikation sowie einen MA in J ournalismus. In der Szene gilt sie als publikumsscheu. Bezeichnend ist allerdings, dass sie ihre wenigen öffentlichen Auftritte einer Vorliebe der Kreationisten widmet: öffentliche Debatten mit prominenten Wissenschaftlern – ein schlechtes Forum, um die Komplexität von Themen wie etwa der Evolutionsbiologie zu vermitteln, doch vortrefflich dazu geeignet, einem nichtwissenschaftlichen Publikum simplifizierende »Wahrheiten« einzuflüstern.
Was motiviert in unserer fortgeschrittenen Zeit eine junge Frau mit akademischer Bildung dazu, das wissenschaftliche Allgemeingut zu verneinen und sogar Nobelpreisträger des Irrtums zu bezichtigen? Die Psychologen müssen sich nun mit der Frage beschäftigen, ob Daniels’ Querulantentum außer Kontrolle geraten ist. Für jemanden, der jenseits der Gesellschaft steht, ist es nur ein kleiner Schritt in die Kriminalität. Sollte Daniels vor Gericht schuldig gesprochen werden, wäre das für die Kreationisten zweifellos ein herber Schlag.
Erschrocken sprang Darwin von seinem Sitzplatz auf. Fast hätte er über seiner Lektüre das Aussteigen vergessen. An der Caledonian Road Station kehrte er unter den freien Himmel zurück. Der Verkehrslärm unterschied sich nur unwesentlich von dem in der City. Die Sonne war bereits untergegangen. In der Dämmerung kämpften unzählige Scheinwerfer gegen das Zwielicht an. Darwin stieg in den nächstbesten Bus. Alle fuhren nach Holloway.
Der Artikel aus dem Oxford Chronicle war aufschlussreich gewesen. Einerseits bestätigte er seinen alten Vorbehalt gegen die unter ständigem Zeitdruck arbeitende und daher oft ungenaue Tagespresse. Von Mortimer wusste er, dass es keine Erstürmung der Talbot Hall durch ein Einsatzkommando der National Crime Squad gegeben hatte. Hoffentlich stimmte wenigstens der übrige Bericht. Er war schon gespannt auf diese intelligente, publikumsscheue Frau.
Einige Minuten später stieg er vor dem Frauengefängnis aus dem Bus. Er wurde bereits erwartet. Martin Cadwell hatte Wort gehalten. Die vorbereiteten Papiere wirkten wie ein Generalschlüssel. Zudem hatte der ermittelnde Beamte der NCS seinen Nachfolger im Staffellauf der Verhöre schon angekündigt. Darwin war dann aber doch etwas überrascht, als der Diensthabende die
Weitere Kostenlose Bücher