Die Galerie der Lügen
Gemälde auf dem Foto als Garten Eden zu erkennen. In bildhafter Form erzählte der Künstler die Kapitel zwei und drei der Genesis: die Erschaffung Adams und Evas, den Sündenfall, das Versteckspiel des sich plötzlich nackt fühlenden Menschenpaars, die Vertreibung aus dem Paradies. Zahlreiche Tiere bevölkern, zumeist paarweise, die ausgedehnte Gartenlandschaft. Größer als in den anderen Szenen sieht man im Vordergrund drei Personen: Gott im trauten Gespräch mit Adam und Eva. Vermutlich erklärt er den beiden, dass sie dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse fernbleiben sollen. Der Schöpfer ist ein alter Mann mit Bart, roter Toga und blauer Tunika. Adam hält zärtlich Evas Hand.
»Das Paradies von Lukas Cranach dem Älteren. Das Gemälde wurde letzten Sonntag in Wien gestohlen«, sagte Darwin und verfiel in denselben dozierenden Ton, mit dem er seine Mitarbeiter in neue Fälle einzuweisen pflegte. Er ließ ein zweites Foto folgen. »So sah der Tatort aus, nachdem der oder die Einbrecher das Kunsthistorische Museum wieder verlassen hatten. Die hoch moderne Sicherheitstechnik des Hauses ist auf ähnlich raffinierte Weise ausgeschaltet worden wie die in Paris. Zufall?«
Darwin bemerkte, wie Daniels’ Blick über das Foto wanderte. Ansonsten blieb sie stumm.
Er atmete tief durch und ließ das nächste Bild über den Tisch gleiten und an den langfingrigen schlanken Händen der Beschuldigten stranden.
Es zeigte den schlafenden Kahlkopf unter der roten Decke. Darunter, vor dem düsteren blauschwarzen Himmel, die graue, unregelmäßig geformte Steintafel mit den sechs Symbolen. Fünf waren wie die Augen auf einem Würfel angeordnet, das sechste – der Spiegel – thronte wie ein allsehendes Auge über ihnen.
»Fast auf die Stunde sieben Tage vorher«, fuhr Darwin in seinem sachlichen Vortrag fort. »Diesmal trifft es die Tate Modern hier in London. Wie man sieht, schätzen die Diebe auch die Surrealisten. Rene Magrittes L e dormeur té m é raire hat es ihnen angetan, Der unachtsame Schläfer. Wie später auch in Wien wird man den Diebstahl erst am Morgen nach der Tat bemerken.«
Das Foto mit dem leeren Bilderrahmen schwebte hinterher. »Erinnern Sie sich?«, fragte der Ermittler provokativ.
Und erreichte damit nichts.
Darwins Geduld war schon lange nicht mehr auf eine so harte Probe gestellt worden. Er setzte sich neben Daniels auf den Tisch und legte ihr Bild Nummer fünf vor.
»Der Schlafende Hermaphrodit aus dem Louvre… «, begann er, hielt aber sogleich wieder inne.
Endlich reagierte die Gefangene. Sie ließ sich weit in den Stuhl zurückfallen, als wolle sie vor dem Foto fliehen. Ihre Brust pumpte mit einem Mal wie ein Blasebalg. Die violetten Augen weiteten sich. Das ohnehin schon blasse Gesicht wurde noch bleicher und zugleich von einem Ausdruck des Entsetzens überschattet. Erkennbar verkrampfte sie sich. Darwin verfolgte diese sich innerhalb kürzester Zeit vollziehende Entwicklung mit Sorge. Die Worte der Wärterin hallten durch seinen Sinn. Sie hat sich gestern bei der Registrierung auffällig verhalten. Sollte er Verstärkung anfordern? Dann wäre die Befragung zweifellos vorbei, ehe sie überhaupt begonnen hatte.
Plötzlich wischte Daniels die Fotos vom Tisch, als müsse sie eine giftige Vogelspinne aus dem Weg räumen.
»Wozu?«, stieß sie hervor.
Darwin blickte konsterniert den zu Boden flatternden Bildern nach, bevor er wieder die aufgebrachte Frau ansehen konnte. »Wozu, was?«
»Warum quälen Sie mich mit diesen Bildern? Glauben Sie wirklich, ich spreche Ihnen mein Geständnis in Ihr Diktiergerät, das Sie da in der Tasche tragen? Das haben schon der Superintendent von der NCS und sein Kollege versucht. Dürfen Sie das überhaupt, ohne meine Einwilligung? Ich werde morgen gleich meinen Anwalt fragen.«
Der Versicherungsdetektiv vergaß für einen langen Moment zu atmen. Diese anscheinend wehrlose, so beharrlich schweigende Frau hatte ihn mit einem einzigen Wortschwall in die Defensive gedrängt. Dabei hätte er wissen müssen, dass eine Journalistin, zu deren Geschäft das Mitschneiden von Interviews gehörte, sich in solchen Dingen auskannte. Aber wie konnte sie von dem Sprachrekorder wissen?
Darwin entschied, dass die Flucht nach vorn in einem solchen Fall die beste Strategie sei. Demonstrativ legte er das Diktiergerät auf den Tisch und drückte die Stopptaste. Er lächelte so gewinnend wie möglich.
»Mein Gedächtnis lässt mich manchmal im Stich. Entschuldigen Sie
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