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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Sodass sie weder Knabe noch Frau genannt werden konnten und wie keines oder wie beides schienen ‹ , dichtete Ovid in seinen Metamorphosen. Die Götter erhörten Salmacis’ Bitte. Fortan besaß Hermaphroditos ein männliches Glied und die Brüste einer Frau. Können Sie sich vorstellen, Mr Shaw, dass die Götter ein solches Wesen ins Dasein bringen?«
    »Was soll die Frage?«, erwiderte Darwin mürrisch. »Solche Missgeburten gibt es nicht. Falls doch, dann wären sie ein bedauerlicher Fehlgriff der Evolution. Und die Figuren aus dem Mythos sind nichts weiter als Ausgeburten der Fantasie irgendwelcher lüsterner Griechen. Sie wollen mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass Sie an die antiken Gottheiten glauben.«
    Einmal mehr bemerkte er eine Veränderung im Gesicht der Gefangenen. Eben noch hatte er die kämpferische Journalistin gesehen, die keinen intellektuellen Waffengang scheute. Aber nun war sie, als habe die eigene Courage sie erschreckt, in ihr Schneckenhaus des Schweigens zurückgeflüchtet.
    »Schlägt Ihnen endlich das Gewissen, oder sind Ihnen nur die Argumente ausgegangen?«, fragte Darwin. Er wusste, dass seine Worte sie provozieren mussten, aber das erschien ihm allemal besser als die Aussicht auf einen weiteren Monolog.
    Unüberhörbar kühl erwiderte Daniels: »Vielleicht bin ich den alten Griechen näher, als Sie sich vorstellen können, Mr Shaw. Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie nicht an einen Schöpfer glauben, nicht wahr?«
    »Nein, ich bin nicht religiös.«
    »Sagen Sie lieber, der Naturalismus ist Ihre Religion, der Glaube an die Alleinherrschaft der Naturkräfte.«
    »Ich brauche niemanden, der mir erklärt, welche Überzeugungen ich habe, das kann ich ganz gut allein beurteilen. Im Übrigen kenne ich Ihren Ruf als Fundamentalistin…«
    »Wo haben Sie denn diesen Schwachsinn her? Lesen Sie etwa The Sun?«
    »Heute ist im Oxford Chronicle ein Artikel erschienen, in dem Sie als › Speerspitze der britischen Kreationisten ‹ …«
    »Nehmen Sie eigentlich alles, was in der Presse steht, für bare Münze? Ich glaube weder, dass die Erde vor sechs- bis zehntausend Jahren in nur einhundertvierundvierzig Stunden erschaffen wurde, noch an die Hölle oder an irgendeinen anderen Humbug, den diese Leute verbreiten.«
    »Dann ist also alles Schwindel, was über Sie in der Zeitung steht.« Darwin schüttelte amüsiert den Kopf.
    »Gegen Lügen kann man sich wehren, die eigentliche Gefahr steckt in den Halbwahrheiten. Ja, ich bin überzeugt, es gibt einen intelligenten Designer, der die Grundtypen des Lebens mit ihrer erstaunlichen Variationsbreite hervorgebracht hat. Diese Ansicht teile ich mit Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Wissenschaftlern, und Sie würden staunen, wie viele davon nicht einmal religiös sind. Aber indem man diese Querdenker mit den Kreationisten auf eine Stufe stellt, macht man sie unglaubhaft – es war schon immer leichter, die Kritiker zu bekämpfen, als ihre Argumente zu entkräften. Oder um es mit Jean Jacques Rousseau zu sagen: › Beleidigungen sind die Argumente jener, die über keine Argumente verfügen. ‹ «
    »Dann wollen Sie also nicht die Evolutionstheorie in den Schulen verbieten lassen?«
    »Ein falsches Gedankengebäude kann man nicht zusperren, man muss es einreißen.«
    »Na schön. Ich will mich nicht mit Ihnen auf eine fruchtlose Diskussion über Weltanschauungen einlassen. So kommen wir nur vom Thema ab.«
    »O nein, Mr Shaw. Es führt direkt darauf zu. Sie glauben doch an die natürliche Zuchtwahl, nicht wahr? An das Überleben des Stärkeren, wie Charles Darwin oft fälschlich wiedergegeben wird – er meinte wohl eher den Tüchtigsten oder Bestangepassten. Haben Sie Ihre Überzeugung eigentlich je überprüft?«
    Bisher hatte sich Darwin immer eingebildet, er kenne alle Schliche von Kriminellen, die sich aus einer Sache herauslavieren wollten. Ein Verbrecher, der in die Enge getrieben wird, reagiert oft wie ein angeschossenes Raubtier. Aber diese Journalistin war anders als alles, was er je in Verhören erlebt hatte. Ihr Benehmen, der Ton ihrer Stimme und die Worte – in allem glaubte er eine unterschwellige Bitterkeit wahrzunehmen, die ihm Rätsel aufgab. Mit einem Lachen täuschte er über seine Unsicherheit hinweg.
    »Dieses Frage-und-Antwort-Spiel ist doch albern, Ms Daniels. Die Wissenschaft kann bald die letzten Millisekunden bis zum Urknall erklären. Wir wissen, wie das Räderwerk des Universums funktioniert. Gott hat sich damit

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