Die Galerie der Lügen
zusammen, hielt seinem bohrenden Blick jedoch stand. Ihre violetten Augen schienen ihn verbrennen zu wollen. Und dann – er konnte sich nicht erklären, wie es dazu kam – erlosch dieses Glühen.
Er hatte das Gefühl, hinter ihren Pupillen sei ein Rollladen heruntergefallen. Die eben noch so verletzlich wirkende junge Frau schien sich in einen abgebrühten Kerl zu verwandeln, der mit allen Wassern gewaschen war. Kühl antwortete sie: »Es hätte keinen Sinn, Ihnen die Wahrheit zu sagen. Ihr Kopf steckt in einer Schlinge und schnürt Ihrem Gehirn das Blut ab, aber Sie merken es nicht einmal.«
Darwin öffnete den Mund, um eine harsche Antwort zu geben, aber ihm fiel nichts ein. Schon wieder hatte es diese Person geschafft, ihn aus dem Konzept zu bringen. Aber die Benommenheit dauerte nicht länger als ein, zwei aufgeregte Herzschläge. Hiernach reagierte er auf die typische Shaw-Art: impulsiv, aber humorvoll. Er öffnete den Krawattenknoten, dann den obersten Hemdenknopf, befreite sich sodann vollends vom Schlips und ließ ihn vor Daniels auf den Tisch fallen.
»Sie haben völlig Recht. Das Ding hat mich schon die ganze Zeit gestört.«
Er bemerkte, wie ihre Mundwinkel zuckten. Hatte sein Verhalten sie amüsiert? War etwa durch das Ablegen der Krawatte auch bei ihr der sprichwörtliche Knoten geplatzt? Das Fenster in ihre Seele blieb nur einen Moment geöffnet. Dann versteinerte ihre Miene wieder und machte damit seine Hoffnungen zunichte.
Nachdem er seine Enttäuschung heruntergeschluckt hatte, sagte er mit aller Eindringlichkeit, zu der er fähig war: »Ich glaube, es ist eher Ihr Hals, um den es hier geht, Madame.«
Ihr Kinn reckte sich ihm entgegen. »Sie haben sich ohnehin schon Ihr Urteil gebildet und sind blind für das Offensichtliche.«
»Dann helfen Sie bitte einem blinden Mann über die Straße. Klären Sie mich auf. Sie haben von Wahrheit gesprochen. Ich bin begierig, Ihre Version zu hören.«
»Weder Sie noch ich besitzen eine eigene Wahrheit, Mr Shaw. Aber mir scheint, Sie sind unfähig, die eine Wahrheit zu erkennen, weil Sie Ihre Gedanken in einen Zwinger gesperrt haben. Die Tür des Käfigs mag zwar offen stehen, aber Sie scheuen sich davor, Ihren Geist daraus zu befreien.«
»Ms Daniels, das sind doch nur Ausflüchte. Sie sind das beste Beispiel: Jeder erschafft sich die Wahrheit, in der er sich am wohlsten fühlt.«
»Pah!«
»Wie bitte?«
»Dieser Irrglaube ist eine der wirksamsten Verführungen. Es ist ein Wortspiel, ein verbaler Trick. So einfach, aber trotzdem wird er nur von wenigen durchschaut: Wahrheit und Wirklichkeit werden gleichgemacht. Man benutzt sie wie Synonyme. Aber das sind sie keinesfalls.«
»Wer sagt das?«
»Der kluge Menschenverstand – vorausgesetzt, Sie verfügen über so etwas. Jeder Mensch hat seine eigene subjektive Wahrnehmung und erschafft sich damit eine ganz persönliche Wirklichkeit. Aber die Wahrheit wird davon nicht berührt. Wenn dieser Nachtwächter im Louvre von mir getötet wurde, dann habe ich es getan, egal ob mir Verdrängung, der Wahnsinn oder irgendeine andere Bewusstseinstrübung das Gegenteil glaubhaft macht. Aber falls ich mit seinem Tod nichts zu schaffen habe, dann können Sie auch noch so fest dran glauben, Mr Shaw, es wird dadurch nicht wahr.«
Ein Hochgefühl durchwogte Darwin. Endlich hatte er sie aus der Reserve gelockt. Jetzt musste er das Gespräch am Laufen halten.
»In diesem Fall gebe ich Ihnen Recht, Ms Daniels. Haben Sie den Wachmann umgebracht?«
»Ich?« Sie verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln. »Nein. Ganz bestimmt nicht.«
Etwas an ihrem Tonfall ließ Darwin aufhorchen. Wusste sie doch mehr, als sie zugeben wollte? »Sie kennen nicht zufällig den Namen des Täters?«
»Nein.«
»Irgendein Tipp?«
»Wissen Sie, woher die Figur des Hermaphroditos kommt?«
Darwin runzelte die Stirn. Zum dritten Mal hatte die Gefangene es geschafft, ihn zu überraschen. Zögernd erwiderte er: »Aus der griechischen Sagenwelt, vermute ich. Mehr weiß ich darüber nicht.«
»Das erstaunt mich. Muss man sich als Ermittler nicht mit einem Opfer befassen, um den Täter zu finden?«
»Worauf wollen Sie hinaus, Ms Daniels?«
»In der griechischen Mythologie war Hermaphroditos der Sohn von Hermes und Aphrodite. Als bildschöner Jüngling ging er in der Quelle der Nymphe Salmacis baden, die sich unsterblich in ihn verliebt hatte. Sie klammerte sich an ihn und betete inständig zu den Göttern um Verschmelzung mit ihm. ›
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