Die Galerie der Lügen
unter die Elaborate gesetzt hatten. Im Stil unterschieden sich die Berichte entsprechend der Zielgruppe. »Der neue Sündenfall«, titelte The Sun mit Bezugnahme auf Cranachs Gemälde Das Paradies und konstruierte aus der ungerechtfertigten Verhaftung ihrer Kollegin und den drei Museumseinbrüchen ein »Vertuschungskomplott dunkler Mächte«. Offenbar sei ein »vergessener Zwilling« von Alex Daniels in die Aktionen verwickelt, über den die Publizistin in Kürze mehr aufdecken wolle. Wer da was zu bemänteln habe, darüber schwieg sie sich allerdings aus. Andere Blätter formulierten zurückhaltender. Der Grundtenor war aber überall gleich.
Nach hinreichender Betonung ihrer Unschuld zeichnete Daniels das Bild einer Verschwörungstheorie, die bei der im Louvre zerstörten Skulptur begann und bis zum Urteil des Paris reichte. Die Museumseinbrüche seien vermutlich nur der Auftakt einer Serie weiterer Vorfälle, die zum Verlust kostbarer und unersetzlicher Kunstschätze führen könnten. Das kulturelle Erbe der Menschheit stehe auf dem Spiel.
Für Daniels bestehe kein Zweifel, behaupteten die Gazetten, dass weder blinde Zerstörungswut noch Habgier das eigentliche Motiv hinter den Verbrechen sei. Ihr stärkstes Argument: An jedem der Tatorte sei ein Element aus Rene Magrittes Gemälde Der unachtsame Schläfer gefunden worden. Dabei handele es sich um Traumsymbole, die der surrealistische Maler wohl im Sinne der freudschen Psychoanalyse eingesetzt habe.
Die ganze Einbruchsserie deute auf einen philosophischen Hintergrund hin, auf eine so vielleicht noch nie da gewesene Form des Terrorismus, die nicht primär auf politische Veränderung, sondern auf die Gedanken der Menschen selbst abziele. Um ihre Vorstellung von der Wahrheit zu verbreiten, bombten und stahlen sich die Extremisten eine »Galerie der Lügen« zusammen, mit der sie die »Irreführungen des Darwinismus« anprangern wollten. Es sei eine Schnitzeljagd und wie bei solchen Spielen üblich, gehe es darum, am Ende ein unbekanntes Ziel zu erreichen. Aber wohin steuerten die Terroristen?
Gegen Ende der Artikel war dann gewöhnlich noch einmal an das kulturelle Gewissen der Leser appelliert worden. Möglicherweise könnte von der richtigen Deutung der Botschaften die Rettung einzigartiger Schätze der Menschheit abhängen. Daher werde sie, Alex Daniels, alles daran setzen, die Zeichen auf ihre Weise zu deuten, und sie fordere alle Leser auf, sich an ihrem Rundgang durch die Galerie der Lügen zu beteiligen. Vielleicht finde ja einer die rettende Lösung des darin verborgenen Rätsels. Zwei Blätter lobten Belohnungen aus. Fortsetzung folgt.
Klamme Kälte kroch durch Darwins braunes Cordsakko. Der Nieselregen hatte sich auf ihn eingeschossen. Nur seine Haare waren dank der Tasche auf dem Kopf geschützt. Er hätte wenigstens den Mantel anziehen sollen. Über der Tür gab es nicht einmal ein Vordach. Und dahinter anscheinend niemanden, der Mitleid mit ihm hatte. Ungeduldig drückte er abermals den Klingelknopf.
Beim Briefing um elf Uhr hatte sein Chef ziemlich ungehalten auf den »extraordinären Rehabilitierungsdrang« der Journalistin reagiert. Die Artikelflut in den Morgenausgaben war in die Presseabteilung von ArtCare übergeschwappt und hatte für einige Unruhe in den höheren Etagen gesorgt. Darwin vermutete, dass Alex Daniels nur ihr angeknackstes Ego aufpolieren wollte. Ein wenig Verständnis konnte er dafür sogar aufbringen. Wäre er von einer ihm zu Ehren gegebenen Festveranstaltung weg verhaftet worden, hätte er vielleicht ähnlich sauer reagiert.
Um wenigstens etwas Schutz vor dem Regen zu finden, drückte er sich eng an die Tür. Nach reiflichem Zögern klingelte er abermals. Er glaubte nicht mehr ernsthaft daran, damit etwas zu bezwecken. Wieder verstrich Zeit, die ihm wie eine Stunde erschien. Mit hochgeklapptem Kragen und eingezogenem Kopf spähte er zwischen den senkrecht herabfallenden Tropfen hindurch zu den dunklen Fenstern im ersten Stock.
Plötzlich kippte er nach vorn.
Nur durch einen raschen Griff zum Rahmen konnte sich Darwin davor bewahren, der Hauseigentümerin in die Arme zu fallen. Sie musste sich geräuschlos an die Tür herangepirscht haben, die nun offen stand, gerade weit genug, um ihn durch den entstandenen Spalt mit finsterer Miene anzublicken. Ihre Gesichter waren sich unfreiwillig näher gekommen, als es den Umständen entsprechend angemessen erschien.
»Was soll das?«, entfuhr es Daniels. Rasch zog sie den
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