Die Galerie der Lügen
Schein nicht trügen. Bei der Militärpolizei hatte sich mancher Held nach genauerem Hinschauen als Abschaum erwiesen.
Weil der Himmel am Nachmittag aufgerissen war, hatte der Detektiv den Weg zu Julian Kendishs Adresse mit offenem Verdeck zurückgelegt. Der Griffith parkte in der Nähe der Harrow School Farm. Darwin hatte die letzten zweihundert Meter durch die Amery Road zu Fuß zurückgelegt.
Vor dem Haus blühte ein einzelner Rosenstrauch. Kein Namensschild. Aber die Nummer stimmte. Er klingelte.
Nach wenigen Sekunden drangen schlurfende Schritte durch die Tür, eine Kette klapperte gegen das Holz, dann wurde sie geöffnet.
Darwin erblickte eine Frau mittleren Alters mit großen Lockenwicklern im Haar und einer Zigarette im Mund. Er rief sein Vertrauen erweckendstes Lächeln ab, stellte sich unter Zuhilfenahme seiner Visitenkarte als Mitarbeiter von ArtCare vor und nannte den Grund seines Besuchs.
»Julian Kendish?«, wiederholte die Hauseigentümerin mit sägender Stimme. Die Zigarette tanzte dabei in ihrem Mundwinkel auf und ab. »Da kommen Sie zu spät.«
Darwins Stirn furchte sich. »Wie meinen Sie das, Mrs… ?«
»Campbell. Linda Campbell.«
»Ist Mr Kendish verzogen?«
»Ha!«, lachte sie, und es klang wie ein Peitschenknall. »Kann man so sagen. Hat Anfang des Jahres das Zeitliche gesegnet, der Arme.«
»Julian Kendish ist tot?«
»So tot wie ‘ne platt gefahr’ne Ratte.«
»Aber so alt war er doch noch gar nicht.«
»Ach was! Kenne ihn ja nur von Fotos, aber die Nachbarn sagen, er hatte ‘n rosiges Gesicht. Soll ‘ne Riesenerbschaft gemacht haben. Die frohe Nachricht hat sein Herz stehn lassen.« Nach einem tiefen Zug aus der Zigarette entriss Mrs Campbell sie endlich dem Klammergriff ihrer Lippen. Blauer Rauch quoll ihr aus Mund und Nase, als beherberge ihre Lunge eine Müllverbrennungsanlage.
Darwin musste die überraschende Nachricht erst verkraften, bis er zu einer neuen Frage imstande war. »Hat Mr Kendish Verwandte gehabt?«
»Ja. Einen Sohn. Heißt Kevin. Hat mal eine Kiste aus dem Keller abgeholt, als wir schon ins Haus eingezogen waren.«
»Haben Sie seine Adresse oder Telefonnummer?«
»Nee.«
»Schade.«
»Kevin is’ auch tot. Tragische Geschichte.« Die Zigarette wanderte wieder in den Mundwinkel.
Darwins Kinnladen sackte herab. »Jetzt sagen Sie nicht, er hätte auch ein schwaches Herz gehabt.«
»Eher ein zu starkes. War so ‘n junger Bursche. Mitte zwanzig. Ziemlich schmal. Hat alles von seinem Alten geerbt. Wollte ‘ne Weltreise mit ‘m Schiff machen. Kam aber nicht weit. Is’ irgendwo in der Karibik umgekommen. Vielleicht hat er zu viel gekokst.«
»Wie lange ist das her?«
»Knapp vier Monate.«
»Besitzen Sie noch irgendwelche Dokumente oder andere Gegenstände von den Kendishs?«
»Nee. Der Junge hat das Haus bis zum Keller runter leer geräumt.«
»Gibt es noch weitere Angehörige?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Typischer Fall von Sackgasse«, murmelte Darwin.
»Was?«
Er schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Mrs Campbell, und noch einen schönen Tag.«
Immer meldete sich nur ihr Anrufbeantworter. Darwin wurde die Befürchtung nicht los, Alex Daniels könnte untergetaucht sein. Den ganzen Dienstagvormittag hatte er versucht, sie telefonisch zu erreichen. Gegen vier Uhr war er dann aufgebrochen, um sie persönlich aufzusuchen.
Während der Griffith sich unter grauem Himmel mit dem Verkehr nach Norden treiben ließ, wanderten Darwins Gedanken durch ein tiefes Tal. Er hatte in den letzten drei Wochen so hart gearbeitet wie lange nicht mehr und doch so gut wie nichts erreicht. Und wenn einmal ein silberner Streif am Himmel aufgetaucht war, dann schoben sich schnell wieder dunkle Wolken davor. Erst die Blamage mit der Journalistin, jetzt der Reinfall mit Kendish.
Nach der gestrigen Rückkehr ins Büro hatte Darwin noch einige E-Mails verschickt und Telefonate geführt, um dem ehemaligen Sicherheitschef von ArtCare nachzuspüren. Möglicherweise hatte Kendish sein Wissen an irgendjemanden weitergegeben . Vielleicht gegen bare Münze. Oder infolge von Erpressung. Detective Superintendent Longfellow hatte versprochen, von seinen Leuten sämtliche Kontakte des Ruheständlers durchleuchten zu lassen, aber gleich dazu gesagt, dass eine solche Überprüfung Monate dauern könne.
Darwin drückte aufs Gaspedal. Der Achtzylinder unter der Haube brüllte auf und katapultierte den Griffith in eine Lücke auf der Nebenspur. Nicht gerade die typisch
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